Dienstag, 23. Dezember 2014

53. Kapitel



Aus den Scherben, die einstmals eine Kristallkugel gewesen waren, stieg eine dünne Rauchfarbe auf. Ich zog meinen Finger hindurch und kurz kräuselte sich der Rauch um ihn, änderte seine Farbe und stieg dann weiter auf.
„Die ist gestern auch zu Bruch gegangen“, sagte Estelle ohne jede Anschuldigung in der Stimme. „Aber keine Sorge, ich brauche die nicht mehr zum Zukunft vorhersagen.“
An ihrer Erscheinung hatte sich nicht viel geändert und doch alles. Noch letzte Nacht hatte sie ihr Mittelchen zu Ende gebraut und es eingenommen. Ich hatte von meinem Bett etwas gehört, das mir erschienen war wie ein gigantischer Sturm, der durch das Haus gefegt war. Ein Sturm, der unglaubliche Kraft mit sich brachte.
Diese Kraft schien aus jeder ihrer Poren, drang bis ins Ende jeder Haarfaser. Es war ein Unterschied wie Tag und Nacht. Außerdem fehlte das Stirnband, das sie gestern noch getragen hatte. Das Band war gebrochen.
Das Arbeitszimmer sah immer noch aus als hätte jemand einen Polterabend veranstaltet. Das zerbrochene Glas und die Keramik lagen in einer Ecke des Raumes, notdürftig zusammengefegt. Die Pflanzen wucherten ungehindert dort, wo sie gestern gewachsen waren.
„Sollen wir?“, fragte Estelle. „Ich werde jedem von euch die Zukunft vorhersagen. Da das eine sehr persönliche Sache ist, werde ich jeden einzeln hereinbitten.“
Wir alle wurden auf die Stühle im Empfangsbereich verfrachtet. Einige Leute waren bereits hier vorbeigekommen, um einen Termin bei Estelle zu beantragen, doch sie hatte alle abgewiesen. Heute wurde nur aufgenommen wer schwer verletzt oder verflucht war. Wir hatten außerdem ausgiebig gefrühstückt. Es hatte sogar Toast und Nutella gegeben, doch es war das erste Mal, dass mir selbst das nicht geschmeckt hatte.
Zuerst ging, zu unser aller Überraschung, Freundschaf in das Zimmer. Aber genau wie wir hatte es ein Recht darauf seine Zukunft zu erfahren. Einmal mehr fragte ich mich was es mit Freundschaf auf sich hatte. Manchmal verhielt es sich wie ein normales Schaf, dann wieder tat es so seltsame Sachen wie Geheimgänge finden, Flüche lösen und sich die Zukunft vorhersagen lassen.
Noch mysteriöser machte es die Tatsache, dass es sich uns freiwillig angeschlossen hatte als wir im Kloster gewesen waren. Das hatte die Oberin sehr betont. Seine Ziele waren mir absolut schleierhaft. Andererseits interessierten sie mich längst nicht mehr. Freundschaf gehörte einfach dazu.
Es kam mit seinem gleichmütigen Schafsgesichtsausdruck aus dem Raum und ließ sich in einer Ecke nieder. Was Estelle ihm gesagt hatte, würde wohl für immer ein Rätsel bleiben.
Danach kam Blue dran. Dann meine Oma. Als nächstes Hannes. Dann war ich dran. Auch wenn ich nicht gut auf die Hexe zu sprechen war, musste ich zugeben, dass ich aufgeregt war. Die Zukunft war für mich immer ein unbeschriebenes Blatt  gewesen und für mich war es als würde ich erfahren, dass jemand unbemerkt Notizen in meinen Block gekritzelt hatte.
„Setz dich bitte, Mia.“
Estelle saß hinter ihrem Schreibtisch. Um sie herum war alles zerbrochen, doch das störte sie nicht. Ich hockte mich auf den Stuhl, der extra vom Aufenthaltsraum hierher gebracht worden war – alle Stühle hier drin hatte ich während meines Wutausbruchs gestern ebenfalls zerstört.
Eine Weile lang sah die Hexe mich nur an, den Kopf mal in die eine, mal in die andere Richtung geneigt. Dann legte sie ihre Hand mit der Handfläche nach oben auf den Tisch.
„Leg deine Handfläche in meine“, forderte sie mich auf.
Ich überwand mich uns tat was sie gesagt hatte. Ihre Hand war genauso warm wie die Feder an meinem Hals. Die Wärme strömte durch meine Finger, durch meine Hand, meinen Arm und von dort durch meinen ganzen Körper. Gleichzeitig wusste ich, dass das hier keine böse Magie war und hielt still.
Estelle schloss derweil die Augen. Das ging ein paar Minuten so, bis sie mich schließlich mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck ansah.
„Ich habe schon so einigen Leuten ihre Zukunft vorhergesagt, aber bisher hatte ich keine Gruppe, die so schwierig zu lesen aber gleichzeitig so interessant war“, meinte sie. „Es ist wirklich außerordentlich schwer eure Zukunft vorherzusagen.“
Dann war meine Idee mit dem weißen Blatt vielleicht doch nicht so schlecht gewesen.
„Du wirst einmal eine mächtige Waffe führen“, begann sie ihre Vorhersage.
Das beeindruckte mich weniger. Ich hatte bereits einmal den Starb geschwungen, die Phoenixfeder könnte auch als mächtiger Gegenstand gelten und wir hatten vor die TSoD zu finden. Soweit keine Überraschung.
„Das habe ich außerdem sowohl Marga als auch Blue gesagt“, erklärte Estelle. „Was auch bei euch allen gleich ist, ob du, deine Oma, Blue, Freundschaf, oder Prinz Johannes, ist, dass ihr alle Großes vollbringen könnt, wenn ihr die Chance dazu nutzt.“
Da wir uns gerade auf einer Mission befanden um das NaNo-Land zu retten, war auch das zu erwarten gewesen. Estelle griff meine Hand ein wenig fester als könnte sie ihr zusätzliche Informationen entlocken.
„Sowohl bei dir als auch bei Blue habe ich den Wald gesehen, in Verbindung mit der Waffe. Das könnte bedeuten, dass sich die Traveling Shovel of Death in diesem Wald befindet. Es könnte aber auch nur bedeuten, dass ihr in den Wald gehen werdet und Leute mit dem Starb verprügelt.“
Langsam fragte ich mich ob sie die Zukunft oder eher die Vergangenheit sah. Leute im Wald mit dem Starb zu verprügeln hörte sich bekannt an.
„Du bist eine sehr komplizierte Person, Mia. Fast alle anderen konnte ich zumindest etwas über ihr Liebesleben verraten. Aber du… nichts. Da ist absolut gar nichts. Vielleicht liegt es daran, dass du die Feder trägst. Vielleicht liegen auch noch so viele Entscheidungen vor dir, dass es unmöglich ist auch nur annähernd vorauszusagen wofür du dich entscheiden wirst. Das einzige, was ich dir sagen kann, ist, dass deine Entscheidungen wichtig sein werden.“
Na super. Da hätte ich auch zu einer Jahrmarktwahrsagerin gehen können. Das hätte mir genauso viel gebracht. Trotzdem bedankte ich mich artig und ging in den Vorraum zu meinen wartenden Freunden.
„Und?“, fragte meine Oma gespannt.
Ich zuckte mit den Schultern. „Sie konnte mir nicht viel sagen.“
„Mir hat sie gesagt, dass ich eine erfüllte Liebe genießen werde“, sagte meine Oma mit träumerischem Blick.
Sofort musste ich an sie und den Piratenkapitätän Lurz denken und das erste Lächeln seit gestern huschte über mein Gesicht. Dann war vielleicht doch etwas Gutes bei der ganzen Zukunftssache herausgekommen.
„Mir konnte sie sagen, dass ich einmal ein sehr geschickter Kämpfer werde“, prahlte Blue.
Das konnte ich mir auch gut vorstellen. Falls er einmal sein loses Mundwerk unter Kontrolle bekommen würde und sich ernsthaft mit etwas beschäftigte, würde er es weit bringen.
„Was ist mit dir?“, fragte ich Hannes. „Hat sie dir zufällig gesagt ob dein Fluch irgendwann mal gebrochen wird?“ Das fände ich zumindest interessant zu wissen.
„Naja“, druckste er herum. „Das konnte sie nicht so gut sehen. Aber die Möglichkeit besteht wohl.“
„Immerhin etwas“, meinte ich aufmunternd, weil er den Kopf gesenkt hielt.
Freundschaf zu fragen machte nicht viel Sinn, da es sein „Mäh“ schon beigesteuert hatte, was vermutlich seine Beschreibung davon war was ihm erzählt worden war.
Die Tür zum Arbeitszimmer ging auf und Estelle trat heraus. „Habt ihr euch alles erzählt was ihr erzählen wolltet? Gut. Ich habe versucht noch mehr herauszufinden.“
Gute Neuigkeiten.
„Dabei ist leider auch nicht viel herausgekommen.“
Schlechte Neuigkeiten.
„Aber vielleicht hilft es euch trotzdem. Ich habe bei Mia und Blue eine starke Waffe und den Wald gesehen, was bedeuten könnte, dass sich die Traveling Shovel of Death irgendwo in diesem Wald befindet. Es könnte natürlich auch Humbug sein, aber das ist die beste Spur, die ihr habt. Außerdem gibt es eine Legende.“
„Was für eine Legende“, hakte Oma nach als Estelle stockte.
„Nehmt nicht alles für bare Münze. Es ist, wie gesagt, eine Legende und selbst ich weiß nicht wie viel Wahrheit dahinter steckt. Aber in diesem Wald soll es einen Mund der Dares geben. Er soll mitten im Wald stehen und jeder Person eine einzelne Frage beantworten, egal was für eine Frage. Er könnte euch vielleicht sagen wo sich die Traveling Shovel of Death befindet. Außerdem gibt er den Leuten Dares für ihre Geschichten.“
„Was sind Dares?“, fragte ich.
„Das sind sowas wie Schreibherausforderungen. Zum Beispiel baue eine sprechende Kristallkugel in deine Geschichte ein und wenn du das tust, hast du den Dare angenommen“, meinte meine Oma. „Ich habe mal einen Gesangswettbewerb…“
„Jaja, schon gut. Wo befindet der sich?“, fragte ich und musterte Estelle.
„Irgendwo in der Mitte des Waldes. Mehr weiß ich leider auch nicht.“
Super. Irgendwo mitten im Wald war keine besonders genaue Ortsangabe. Und was sollten wir tun? Die unheimlich vielen Leute, die durch den Wald liefen, nach dem Weg fragen?
„Außerdem: Hütet euch vor dem Zaunkönig. Er ist ein durch und durch böses Wesen, das sich im Wald versteckt. Es wird behauptet mit seinem Laserblick kann er ganze Gebäude pulverisieren. Lauft ihm besser nicht über den Weg und falls doch, rennt so schnell ihr könnt. Ansonsten wünsche ich euch, dass eure Auftrag gelingen möge.“
„Danke“, meinte meine Oma. „Wir werden es auf jeden Fall versuchen. Eine andere Chance haben wir ja nicht.“
„Ich hoffe ihr werdet euren Auftrag erfüllen können. Ich hoffe außerdem, dass ihr mir irgendwann verzeihen werdet“ dabei sah sie bewusst in meine Richtung „und dass ihr hier vorbeischaut wenn ihr die Zeit findet. Ihr seid immer willkommen.“
Meine Oma bedankte sich erneut, ebenso wie Blue und Hannes. Ich brachte ein knappes Nicken zustande. Außer guten Ratschlägen gab uns Estelle auch noch Verpflegung für mehrere Tage mit. Dann verließen wir das Hexenhaus.
Wir beschlossen, dem Pfad, der sich vom Hexenhaus weiter in den Wald schlängelte, zu folgen. Irgendwann würden wir ihn verlassen müssen, das war mir jetzt schon klar, aber wenn wir sowieso keine Ahnung hatten wo genau wir hin mussten und die einzige Richtungsangabe war, tiefer in den Wald zu gehen, war diese Möglichkeit genauso gut wie jede andere. Der überwucherte Waldweg ging bald in einen schmalen Trampelpfad über, der als trockenem, humorlosen Boden bestand, statt des trockenen, humosen Bodens den es um das Hexenhaus herum noch gegeben hatte.
Einmal sah ich eine Bewegung in einem Baum und blieb stehen.
„Wie wahrscheinlich ist es, dass eine Eule Schwert genug ist, um einen Ast unter sich zu durchtrennen?“, fragte ich.
Die anderen folgten meinem Blick zu der Eule mit den metallenen Krallen, die gerade einen Ast durchsäbelte.
„In diesem Wald? 100%“, sagte Blue.
Sowas hatte ich schon befürchtet. Solange wir von der nicht angegriffen wurden, war mir alles recht.
Schon bald war nicht einmal der Trampelpfad gut zu erkennen. Ich hatte die faltbare Katze herausgenommen und wieder weggesteckt, da keinerlei andere Wege in dieser Ecke des Waldes verzeichnet waren. Misstrauisch nahm ich den Zeigefinder heraus. Error-not found, kam als Antwort als ich ihn nach dem Mund der Dares fragte. Überraschenderweise zeigte er mir allerdings an in welcher Richtung es zur Mitte des Waldes ging. Das war ein Anfang.
Gegen die Mittagszeit, nachdem wir gerastet und gegessen hatten, wurde das Durchkommen noch schwerer. Wir kämpften uns nur noch durch dichtes Unterholz. Besonders Freundschaf tat das nicht gut, da es mit seiner langen Wolle in allen Zweigen hängen blieb. Mittlerweile sah es eher aus wie ein Igel als wie ein Schaf. Hannes hatte ich vorsichtshalber von Freundschaf genommen und in meine Robbentasche getan, damit er nicht von einem Ast getroffen wurde.
Plötzlich trat ich auf etwas Weiches, doch ich hatte bereits Gewicht auf meinen Fuß gelegt. Ein Donnerzwerg knackte unter meinem Fuß. Ein Geräusch wie der Donner einer Kanone entstand und ließ uns alle zusammenzuckten. Der Knall verbreitete sich wie ein Echo zwischen den Bäumen, sodass mindestens alle Lebewesen von hier bis zum Haus der Hexe unsere Anwesenheit bemerkt haben mussten.
„Tschuldigung“, murmelte ich, sowohl zu meinen Gefährten, als auch zu dem Zwerg, der sich mühsam von der Sohle meines Stiefels schälte und wütend mit den Fäusten fuchtelnd im Unterholz verschwand.
„Hey, was ist das für ein Geräusch?“, fragte Blue plötzlich.
„Das war ein Donnerzwerg“, erklärte meine Oma. „Die knacken wenn…“
„Nein, was das ist weiß ich“, unterbrach er sie. „Was ist das andere? Das hört sich an als würde jemand mit einer Sense Gras mähen…“
Ich lauschte angestrengter und hörte was Blue beschrieben hatte. Ein seltsames Schwiss-schwisch, das näher zu kommen schien. Ich meinte außerdem zwischen einigen Bäumen weiter weg Bewegungen erkennen zu können. Es schälten sich Gestalten heraus, die schneller näher kamen, zusammen mit dem Geräusch.
Um sie herum schienen Büsche und Sträucher zu fallen wie frisch gemähtes Gras. Sie ritten auf ihren Schwertern schnell wie der Wind durch den Wald. Und sie sahen nicht freundlich aus.

1 Kommentar:

  1. Hab ich was überlesen... oder hat die Oma den Raum wo die Hexe die Vorhersagen gemacht hat nie betreten.

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