Samstag, 6. Dezember 2014

36. Kapitel



Ein totes Licht erfüllte den Saal und nichts trübte die mordende Stille. Mordend schien sie zu sein, denn die Stille war erwartungsvoll und dunkel und der Saal war gefüllt mit Skeletten. Einige davon waren Tiere, andere Menschen.
Der Saal an sich erinnerte ebenfalls an den Thronsaal des Hamsters, allerdings weniger aus Stein gehauen als vielmehr daraus gewachsen. Von der Decke hingen Stalaktiten, die golden schimmerten. Der Rest des Raumes war eher dunkel, denn graue und schwarze Felswände umgaben alles. Auch der Boden bestand aus demselben Fels und sehr uneben.
Zu beiden Seiten der Tür lagen die Skelette. Einige waren seltsam verkrümmt. Teilweise hing zerfetzte Kleidung an ihnen herab und ein paar von ihnen schienen noch nicht allzu lange hier zu sein, denn sie befanden sich in diversen Stadien der Verwesung. Sie befanden sich vor allem im Bereich der Tür. Nur eine Person hatte es etwa zehn Meter in den Raum geschafft und starrte von dort mit leerem Blick an die Decke.
„Hat noch jemand das Gefühl, dass wir nicht die ersten sind, die den Geheimraum gefunden haben? Und dass wir da nicht reingehen sollten?“, flüsterte André.
„Willst du zurück in den Auzug?“, konterte Marga. „Lasst uns die Beine hochkrempeln und das jetzt durchziehen.“ Dabei wünschte sie sich, dass ihre Worte nicht ganz so wörtlich genommen werden würden.
André schüttelte den Kopf, holte einmal tief Luft und betrat den Raum.
Sofort schien sich das Licht um ihn zu sammeln wie Piranhas in einem Wasserbecken um einen Blutstropfen. André schrie auf als sich an seinem ganzen Körper Wunden bildeten, so als würde er von tausend Messern zerschnitten werden.
Marga stand da wie versteinert. Was konnte sie tun? Sobald sie den Raum betrat, würde auch sie garantiert angegriffen werden, aber sie konnte den Wachmann auch nicht seinem Schicksal überlassen. Immerhin waren sie es gewesen, die ihn mit hier herunter geschleppt hatten.
„Lass von ihm ab!“, schrie sie das Licht an und machte einen Schritt in den Raum.
Sofort sammelte sich totes Licht um sie und sie fühlte wie sich ein großer Schnitt auf ihrer Wange auftat. So sehr sie auch versuchte sich zu bewegen, sie konnte sich nicht rühren. Bevor sie jedoch den Mund öffnen konnte um zu schreien, begann hinter ihr ein anderes Licht zu strahlen. Es durchdrang das tote Licht und drängte es zurück, sodass Marga keine weiteren Schnittwunden erhielt.
Auch André stemmte sich mühsam auf, auch wenn er um einiges schlimmer aussah als sie.
„Alles in Ordnung?“
Marga lief zu ihm und half dem Wachmann dabei seinen verformten Körper auf die Beine zu bekommen. Dann drehte sie sich um. Die Quelle des Lichts stellte sich als Phoenix heraus. Sie hatte die Metallfeder, die Marga schon aufgefallen war, in den Fingern und hielt sie über ihren Kopf.
„Das ist lebendiges Licht“, erklärte ihre Kameradin.
Sobald sie den Raum betrat, weitete sich der Kreis aus lebendigem Licht, sodass die drei Menschen in seinem Zentrum waren. Das tote Licht versuchte vergebens den Schutzwall zu durchbrechen, prallte jedoch immer wieder davon ab.
„Das muss starke Magie sein“, bemerkte Marga nur.
„Ja. Die stärkste Magierin des Landes hat mir diese Feder geschenkt.“ Sie stockte kurz. „Damit ich mich immer an sie erinnere.“ Der letzte Satz war nur ein Flüstern.
 „War sie eine gute Freundin?“
Marga tätschelte ihr unbeholfen die Schulter, denn die sonst so praktisch veranlagte Phoenix sah aus als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Was genau passiert war fragte sie jetzt besser nicht. Das war die Überlegensregel Nummer 1: Wenn man in einem Raum war mit Licht, das einen umbringen wollte und das einzige, was dem im Weg stand, eine magische Feder war, würde man deren Trägerin nicht mit Fragen verunsichern.
„Mehr als das.“ Phoenix schluckte. „Lasst uns weitergehen. Je eher wir hier raus sind, desto besser.“
Sie durchquerten die Halle, immer noch umringt vom lebendigen Licht, das die tote Variante davon abhielt sie zu erreichen. Marga griff ihren Regenschirm fester, was ihr unerklärlicherweise das Gefühl gab besser auf das vorbereitet zu sein was sie erwartete.
Am anderen Ende des Raumes auf einer Art Podest befand sich ein dunkler Umriss, der in einem Stein zu stecken schien. Er erinnerte tatsächlich an den Griff einer Schaufel und Margas Herz schlug schneller. Eventuell hatte sich der Besuch in der Burg doch gelohnt.
„Vielleicht sollte ich es dieses Mal riskieren noch einen Fluch auf mich zu nehmen“, schlug Marga vor, ohne dass das Lächeln von ihrem Gesicht gewischt wurde. „Du siehst ein wenig mitgenommen aus, André.“
„Das kann auch ich tun“, protestierte Phoenix.
„Nein, du musst in der Lage sein die Feder zu halten. Ich nehme an sie funktioniert nur für dich?“, fragte Marga.
„Sowas wie eine magische Versicherung, ja. Es sei denn ich gebe sie endgültig an jemand anderen weiter.“
„Dann werde ich nach dem Teil dort greifen.“
Damit war das letzte Wort gesprochen. Obwohl sie den Vorschlag selbst gemacht hatte, zitterten ihre Finger als sie nach dem hölzernen Griff langte und vorsichtig daran zog. Das bekannte warme Gefühl in der Bauchgegend setzte ein, was die Hand in ihrer Robbentasche aufgeregt hoch und runter springen ließ. Trotzdem machte Marga weiter und hatte schließlich… einen Holzstab in der Hand?
„Das ist keine Schaufel“, stellte sie gerade noch fest bevor sie das Ding fallen ließ und sich auf dem Boden zusammenkrümmte.
Ihre blauen Augen lagen vor ihr und aus ihnen quollen Strähnen bis sie aussahen wie missratene Köpfe. Trotzdem konnte sie die Welt um sich herum noch sehen. Aber wenn ihre Augen vor ihr lagen, was hatte sie dann im Gesicht…?
„Gah!“, schrie André als sie ihn ansah. Das bestätigte ihre schlimmsten Vermutungen.
„Was habe ich im Gesicht?“
Auch Phoenix sah leicht angeekelt und besorgt aus. „Das willst du nicht wissen.“
„Doch, will ich! Immerhin habe ich gerade meine Augen für dieses Ding hier gelassen. Was ist das eigentlich?“
 „Das“, sagte Phoenix „ist ein Starb.“
„Ein was?“
„Ein Starb. Er erfüllt eine ähnliche Funktion wie die TSoD; das ist nämlich eine mächtige Waffe. Allerdings keine ganz so mächtige wie die TSoD.“ Ihre Blick huschte zwischen Margas blauen Augen auf dem Boden und ihrem Gesicht hin und her.
„Gegen was habe ich meine Augen ausgetauscht?“, fragte Marga wieder.
Mit einem Anflug von Wehmut musterte sie die verhaarten Dinger auf dem Boden. Anscheinend war sie diejenige, die hier regelmäßig Körperteile lassen musste.
„Eventuell kann ich den Fluch lösen“, meinte Phoenix stirnrunzelnd.
Marga fiel auf, dass ihre Frage immer noch nicht beantwortet war, aber was ihre Gefährtin gesagt hatte war ebenfalls interessant. „Das kannst du? Warum hast du das bei der Hand nicht auch getan?“
„Es könnte hilfreich sein, dass wir uns im lebendigen Licht befunden haben als dich der Fluch getroffen hat. Gegen die abgetrennte Hand konnte ich leider nichts unternehmen.“ Sie griff die Feder fester. „Soll ich es versuchen? Es könnte allerdings auch schief gehen.“
„Was ist wenn es schief geht?“
„Dann wird es nur schwerer den Fluch zu heben, weil sich zwei Flüche überlagern würden.“
„Versuch es“, beschloss Marga. „Viel schlimmer als jetzt kann es euren Blicken nach zu urteilen nicht werden.“
„Dann heb deine Augen auf und halt sie dir vors Gesicht.“
Sie legte den Starb neben ihren Füßen ab und bückte sich. Obwohl es ihre eigenen Augen waren, musste Marga einen Schauer unterdrücken, der ihr den Rücken herunterlaufen wollte, als sie mit ihrer Hand danach griff. Ihre andere Hand hatte sich tief in der Tasche vergraben. Diese haarigen, glitschigen Dinger waren tatsächlich mal in ihrem Gesicht gewesen. Ohne Haare, was nur ein kleiner Trost war.
„Es könnte sein, dass das tote Licht kurz zu uns durchkommt“, warnte Phoenix. „Gleichzeitig zwei Arten starker Magie zu wirken könnte für die Feder zu viel sein.“
Dabei sah sie vor allem André an, der vom toten Licht besonders in Mitleidenschaft gezogen worden war. Der zuckte jedoch nur mit den Schultern während sein Blick zu Margas Augen wanderte.
„Gut.“
Ohne dass Phoenix einen Spruch gesagt hätte oder irgendwelche Bewegungen ausgeführt hätte, begann die Feder plötzlich stärker zu leuchten. Das Licht schien sich jedoch kondensiert zu sammeln und der schützende Kreis, der sie umgeben hatte, wurde immer schmaler. Die Augen, die sich Marga vors Gesicht hielt, begannen ebenfalls zu leuchten. Die Haare verschwanden zusehends bis nur noch das Blau übrig war.
Der Schutzkreis umfasste nun nur Phoenix und Marga. André war wieder zu Boden gesunken und ertrug mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schnittwunden, die ihm erneut zugefügt wurden.
Die Augen leuchteten mehr und mehr. Dabei wurden sie außerdem wärmer, bis sie so heiß waren, dass Marga es nicht mehr aushalten konnte. Selbst wenn das bedeutete, dass der Fluch nicht gebrochen werden konnte, sie würde lieber mit was auch immer sich in ihrem Gesicht befand herumlaufen als ihre zweite Hand ebenfalls zu verlieren.
Allerdings begannen ihre Augen zu schweben und kamen langsam auf ihr Gesicht zu. Sie widerstand der Versuchung zurückzuweichen und schloss stattdessen die Augen. Das Licht nahm eine noch höhere Intensität an, sodass es rot durch ihre Lider schimmerte. Plötzlich fühlte es sich an als würden ihre Augen in Flammen stehen. Die Hitze, wegen der sie ihre Augäpfel losgelassen hatte, fraß sich durch ihren Schädel. Sie konnte sich nicht zurückhalten und schrie auf. Dass sie zu Boden gegangen war bemerkte sie erst als sie den kalten, steinigen Boden des Raumes unter ihrer Hand spürte. Über ihre eigenen Schreie hörte sie nun auch André, der sich anscheinend nicht mehr zurückhalten konnte.
Der Schmerz war so schnell verschwunden wie er gekommen war und ließ sie nach Luft schnappend auf dem Boden zurück. Auch Andrès Schreie waren verstummt. Marga zwang sich die Augen zu öffnen, um herauszufinden wieso.
Das erste was sie sah war der Wachmann, der sie erleichtert ansah. Er war ebenfalls auf dem Boden zusammengesackt und gerade dabei sich aufzurappeln. Neue Schnittwunden bedeckten seinen Körper, so als wäre er durch ein Labyrinth aus Schwertern gelaufen. Der Gesamteindruck war verstörend.
„Hier.“
Phoenix hielt ihr eine Hand hin und zog sie auf die Beine. Mit der anderen Hand hielt sie die Feder wieder in die Höhe und hielt damit das tote Licht auf Abstand. Sobald sie auf den Beinen war und überprüft hatte, dass ihr lila Samthut noch an seinem Platz war, nahm Marga den Starb wieder in die Hand.
„Und? Sind meine Augen an Ort und Stelle?“
„Ja“, sagten Phoenix und André wie aus einem Munde.
„Sagt ihr mir jetzt wie ich vorher aussah?“
Die beiden sahen sich an. „Nein“, sagte André und Phoenix schüttelte den Kopf.
Seufzend stützte Marge sich auf ihre neue Waffe. Den Regenschirm hatte sie sich an den Arm gehängt. Ihn dort zu sehen brachte sie allerdings auf eine Idee.
„Du hast die Feder. André hat seinen Säbel. Ich habe meinen Regenschirm. Wer will den Starb?“
„Ich denke du solltest ihn behalten“, meinte Phoenix. „Bei solcher Magie weiß man nie was sie für Auswirkungen haben könnte. Eventuell trifft der Fluch jemand anderen wenn der versucht den Starb zu nehmen obwohl du ihn aus dem Altar gezogen hast.“
Sie hatte Recht. Jetzt wo sich Marga den Stein genauer ansah bemerkte sie, dass seltsame Runen eingraviert waren. Falls sie den Fluch enthielten war dieser hier wesentlich stärker gewesen als der, der ihre die Hand genommen hatte. Das machte es umso beeindruckender, dass Phoenix‘ Feder ihn hatte lösen können – und umso ärgerlicher, dass es bei der Hand nicht funktioniert hatte und auch André nicht geholfen werden konnte.
„Kannst du dann meinen Regenschirm mit dem Starb verbinden?“
Dieser Geistesblitz war ihre gerade erst gekommen. Wenn das nicht möglich war, würde sie vermutlich ihren Regenschirm weiterhin benutzen wollen. Phoenix sah jedoch nachdenklich aus.
„Das müsste funktionieren. Sofern du mit dem Starb umgehen kannst. Den kann man mehr oder weniger an- und abschalten. Wenn du jemandem nur einen Schlag versetzt ohne ihn ernsthaft verletzen zu wollen, funktioniert er wie ein normaler Stab. Willst du wirklich kämpfen entwickelst er magische Eigenschaften.“
„Das hört sich genau nach dem an was ich brauche.“
Wäre es anders, hätte sie sich das nochmal überlegt. Dazu kam der Regenschirm zu oft zum Einsatz um anderen Leuten eins überzubraten.
„Vielleicht sollten wir den Raum zuerst verlassen“, schlug Phoenix jedoch vor.
Sie deutete auf eine Öffnung, hinter der man eine Treppe erahnen konnte. Es schien der einzig andere Ausgang zu sein und zum Auzug würden sie nicht zurückkehren. Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Fast erwartete Marga, dass das tote Licht einen letzten Versuch unternehmen würde sie zu erreichen, doch alles blieb still.
Es stellte sich bald heraus, dass die Treppe vom selben Licht umgeben war. Phoenix tippte die unterste Stufe jedoch mit der Feder an und um sie herum erstrahlte das lebendige Licht. Dieses Mal schien es nicht nötig zu sein die Feder in die Höhe zu halten, denn als nächstes tippte Phoenix mit ihr nacheinander den geblümten lila Regenschirm und den Starb an, woraufhin die Konturen von beiden verschwammen, um dann ineinander überzugehen.
„Jetzt hast du einen magischen Regenschirm“, meint Phoenix mit einem ironischen feierlichen Ton.
„Der Vorteil ist, dass man es dem Teil nicht ansieht“, stellte André fest.
Im Treppenlicht machten sie sich an den Aufstieg.

2 Kommentare:

  1. Also mit einem magischen Regenschirm kann eigentlich gar nichts mehr schief gehen... bin nur gespannt ob noch ein paar Körperteile eingebüßt werden.

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  2. Ui, der Schirm erinnert mich jetzt an Mary Poppins...
    Aber André tut mir so Leid... Der Arme! *knuddel*

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