Samstag, 13. Dezember 2014

43. Kapitel



„Nimm noch etwas Fürchtetee“, versuchte Phoenix sie zu überreden.
Schweigend nahm Marga eine Tasse des Gebräus entgegen. Es hatte eine seltsame Konsistenz, wie eine Mischung zwischen einer Flüssigkeit und einem Gas. Dunkle, fast schwarze Schwaden waberten in der Tasse herum.
Der Tee schmeckte nicht besonders gut, aber dafür half er ihr warm zu werden. Ihre Kleidung war immer noch vollkommen durchnässt und die Nacht war kalt. Alle Wechselsachen waren in Phoenix‘ Rucksack, der ebenfalls nass geworden war als sie vor den eistürzenden Wassergängen geflohen waren.
„Schockolade?“, fragte Phoenix hoffnungsvoll.
„Was?“
„Schockolade. Eigentlich ganz lecker.“
Marga schob sich ein Stück davon in den Mund. Es schmeckte wirklich wie normale Schokolade. Alles, was sie gerade bei ihrem kleinen Picknick verzehrten, war aus der Küche der Burg geklaut. Da war es kein Wunder wenn solche seltsamen Sachen dabei herausgekommen waren.
„Ich denke wir sollten uns bald in Bewegung setzen.“
Phoenix hatte wieder ihren Fernstecher in der Hand, der die Reise durch den See ebenfalls überlebt hatte. Sie hatten sich auf eine kurze Pause geeinigt, um sich ein wenig von den Strapazen zu erholen. Mittlerweile waren sie seit etwa 36 Stunden auf den Beinen. Ihre Enkeltochter mochte so etwas ohne allzu große Probleme wegstecken, aber mit mehr als 70 Jahren war Marga wirklich nicht für so etwas ausgelegt.
Allerdings waren seit geraumer Zeit Menschen um die Burg herum zu sehen, die die Gegend mit Fackeln absuchten. Ihre Flucht war nicht unbemerkt geblieben und wenn sie zu lange am Ufer des Sees sitzen blieben, würde man sie mit Sicherheit entdecken. Zum Glück hatte sich bisher kein Suchtrupp in den Wörtersumpf gewagt, aber wie lange das so bleiben würde war unklar.
„Was ist das da drüben für ein Licht?“ Marga hatte einen Lichtschimmer entdeckt, der jedoch nicht von einer Fackel zu stammen schien. „Da drüben.“
Sie deutete auf eine Stelle etwas weiter in den Wörtersumpf hinein. Ein Licht schien dort zu schweben, wie eine Straßenlaterne.
„Das muss ein Mordlicht sein. Sowas wie ein Irrlicht, nur blutrünstiger“, erklärte Phoenix. „Durch sie gelangen Leute auf Unwege und bleiben im Sumpf stecken. Dann saugen ihnen die Mordlichter die Lebenskraft aus. Allerdings sind sie der Grund weshalb wir dieses kleine Feuer machen konnten.“
Denen sollten sie auf keinen Fall nachgehen. Das Feuer war allerdings praktisch, denn wie sonst hätten sie ihren Fürchtetee warm bekommen sollen? Selbst wenn es vom anderen Ufer aus gesehen worden war, hatte man es für ein Mordlicht gehalten. Allerdings hatte Phoenix Recht und sie sollten sich jetzt auf den Weg machen. Marga benutzte ihren Schirm, um sich auf die Beine zu stemmen. Es gab keinen Grund dem Unausweichlichen weiter den Rücken zu kehren.
„Wir sollten aufbrechen“, meinte sie nur.
„Moment…“ Phoenix starrte angestrengt in den See. „Da ist etwas…“
In der Erwartung einen Tentakel zu sehen, der versuchen würde sie in den See zu ziehen, drehte Marga sich um und hielt ihren Starb bereit. Stattdessen kroch ihre vollkommen erschöpfte und klatschnasse Hand ans Ufer, einen unförmigen Gegenstand hinter sich herziehend.
„Das ist…“
„Meine Hand! Und mein Hut!“, rief Marga begeistert.
Sie nahm ihr Händchen hoch und kraulte es zwischen den Fingern. Das arme Ding war vollkommen k.o. davon den durchtränkten Hut ans Ufer zu ziehen. Es war überall mit Schlamm verschmiert und bevor Marga es in ihrer Robbentasche verstaute, wusch sie es kurz im Wasser des Sees aus.
„Du hast meinen Hut zurückgebracht! Braves Händchen“, lobte sie ihr verloren geglaubtes Körperteil.
Der Hut war in bemitleidenswertem Zustand. Die Krempe war schlammverschmiert, der Samt nicht mehr so schön weich, die Feder vollkommen verklebt und die große lila Seidenblume war kaum noch als solche zu erkennen. Auch ihn versuchte Marga auszuwaschen, doch das Ergebnis war nicht befriedigend. Also packte sie ihn notgedrungen in eine Vordertasche des Rucksacks.
Mit ihren beiden verlorenen Freunden fühlte sie sich gleich viel besser. Der Sumpf sah nicht mehr so düster aus und die Mordlichter konnten leuchten so viel sie wollten, sie erschreckten Marga nicht.
„Wir sollten wirklich gehen“, sagte Phoenix. „Am anderen Ufer verdunkeln sie gerade die Schwatten.“
Tatsächlich waren die Suchenden dabei seltsame Schattenwesen zu beschwören, die vermutlich bei der Suche helfen sollten. Phoenix wrang ihre nasse Robbe über dem Feuer aus und löschte es so. Dann brachte sie ihre Feder dazu sehr schwach zu leuchten. Es war gerade genug Licht, um zu sehen wohin man lief und wenig genug, um nicht aufzufallen.
Trotzdem versank Phoenix bald mit beiden Schultern und einem Teil des Topfes, indem sie den Fürchtetee warm gemacht hatten, im Moorwasser. Ein großes Schlammstück befand sich nun darin und weigerte sich partout aus dem Topf zu verschwinden. Das war dann wohl das Ende der gemütlichen Abende mit Fürchtetee.
Sie kamen unendlich langsam voran, denn der schlammpige Sumpf brachte sie an ihre Grenzen. Der Wald schien kaum näher zu kommen, doch zu dem mussten sie es schaffen wenn sie eine Chance haben wollten vor dem Morgengrauen aus dem Sumpf zu verschwinden. Hier gab es nicht viel Deckung, sodass sie auf jeden Fall gesehen werden würden. Außerdem mussten sie ihre Pferde erreichen, damit sie so schnell wie möglich die Horrorgegend verlassen konnten.
Endlich kamen die ersten Bäume näher. Teilweise war im Sumpf schon Buschwerk zu sehen und es war nicht mehr ganz so tief. Allerdings war auch der erste Schimmer Morgentot schon über dem Horizont zu sehen. Dieser Begriff schien hier besonders angemessen, denn wenn sie es nicht bis zum Morgen in den Wald schafften, waren sie so gut wie tot.
Sie erreichten gerade den ersten Baum, als die ersten dicken Nebeltropfen fielen. Sie waren weiß und wenn sie Margas Robbe berührten, verwandelten sie sich in Nebelschwaden, die zu Boden glitten. Schon bald nahmen die Schwaden seltsame Konturen an; sie formten sich zu Körperteilen, besonders zu Nabeln.
Sie wateten durch die immer dichter werdende Nabelsuppe, während Marga versuchte die Schwaden mit den Händen zur Seite zu wischen. Selbst ihr Starb half hier wenig bis gar nicht. Der dichte Nbele, aus dem die Nabelsuppe bestand, hinderte sie daran auf die andere Seite zu sehen, wo die rettenden Bäume auf sie warteten.
„Es hilft nichts“, rief Marga.
Vor ihr war gerade noch Phoenix zu sehen, die sie nur am Licht ihrer Phoenixfeder erkennen konnte.
„Wir müssen stehen bleiben. Wir könnten in die komplett falsche Richtung laufen und es nicht einmal mitbekommen!“
„Deshalb bin ich auch schon längst stehen geblieben“, ertönte eine Stimme direkt hinter ihr.
Marga zuckte zusammen und drehte sich um. Hinter ihr kam Phoenix in Sicht, das Licht der Feder auf ihrer Brust gerade sichtbar. Marga war auf ein Mordlicht zugegangen ohne es zu bemerken. Dieses hüpfte gerade wütend auf und ab, nur noch ein paar Meter von ihr entfernt und anscheinend wütend, dass ihm sein Opfer in der letzten Sekunde entkommen war. Marga schauderte. Das war mehr als knapp gewesen.
„Wir sollten definitiv warten“, beschloss sie.
Das Warten war schlimmer als das Waten. Nachdem sie sich noch eine ganze Weile in der Kälte des Morgennebels den Bauch in die Beine gestanden hatten, begann der Schlamm an ihren Füßen noch kälter zu werden und das Gefühl von Kopf bis Fuß nass zu sein war unerträglich. Der einzige Hoffnungsschimmer war, dass sie durch den Nbele die Sonne sehen konnten, die als runde, leuchtende Scheibe immer höher stieg. Auch sie war hinter Dunstschwaden verborgen, sodass man sie gefahrlos ansehen konnte, aber sobald sich diese lichteten, würden sie auf dem Präsentierteller stehen.
Stundenlang standen sie da, wagten sich nicht einen Fuß vor den anderen zu setzen. Irgendwann musste Marga sich gegen Phoenix lehnen, um nicht vor Erschöpfung umzufallen. Hinsetzen konnten sie sich auch nicht, denn der Morast ging ihnen immer noch bis über die Knie. Würden sie sitzen, stände ihnen das Wasser buchstäblich bis zum Hals. Was sich in diesem Sumpf an Tieren herumtrieb war auch ungewiss.
Eine Weile beobachteten Marga und Phoenix nur die Wanderung der Sonne. Die Nebenschwaden hatten sich unterdessen zerstreut, aber die Hauptschwaden waren noch da. Nach einer weiteren halben Stunde hatte der Nabel sich jedoch gelichtet. Die ersten Silhouetten der Bäume waren zu erkennen, nicht weit von dem Ort wo sie stehen geblieben waren. Wären sie jedoch in die Richtung gegangen, die sie gestern eingeschlagen hatten, wären sie wieder Richtung Burg gegangen und müssten den gesamten Weg noch einmal zurücklegen.
Als sie das erste Mal wieder festen Boden unter den Füßen spürte, hätte Marga vor Erleichterung beinah geweint. Mit jedem Schritt wurde der Boden unnachgiebiger, bis sie zwischen dunklen Tannen standen.
Das Morgentot, das sie über der Burg sehen konnten, war wunderschön anzusehen, vor allem von hier, weit weg. Lange hielten sie sich nicht mit der Aussicht auf. Nach einer weiteren Stunde Marsch, bei der sie sich gegenseitig damit wachhalten mussten den jeweils anderen alle fünf Minuten mit einem Tannenzweig zu schlagen, erreichten sie gegen Mittag die versteckte Lichtung, auf der sie die Pferde gelassen hatten. 
Diese waren tatsächlich noch an Ort und Stelle und niemand schien die Lichtung betreten zu haben.
„Schau mich an“, meinte Marga verzweifelt und klopfte ihre Robbe ab. „Ich habe kein Bedürfnis mit einer schlammverschmierten Robbe herumzulaufen. Sie war so schön weiß…“
Jetzt aber war die Robbe schlammverkrustet und schien sich nicht besonders wohl in ihrer Haut zu fühlen.
„Armes Ding. Keine Sorge, ich werde dich säubern sobald ich Zeit und Wasser dazu habe“. versprach Marga. „Aber jetzt brauche ich auf den Schreck erstmal einen Schock.“
„Schock?“, fragte Phoenix und gähnte ebenfalls.
„Schockolade natürlich“, fuhr Marga fort.
Ihr Mund verzog sich ohne ihr Zutun wieder zu einem Gähnen. Sie bekam gerade noch ein Stück Schockolade herunter und trank einen Rest kalten Fürchtetee, den sie sich in eine Falsche gefüllt hatte, die sie aus der Drachenschenke mitgenommen hatten. Phoenix hatte eine Stelle mit weichem Moos gefunden und es sich dort auf ihrer Robbe bequem gemacht. Marga gesellte sich dazu und war binnen weniger Sekunden eingeschlafen.

Sie schliefen mehr als zwölf Stunden lang und machen sich erst im Schutz der nächsten Nacht wieder auf den Weg.

3 Kommentare:

  1. (Zitat) „Am anderen Ufer verdunkeln sie gerade die Schwatten.“

    Der dichte Nbele, aus dem die Nabelsuppe bestand, hinderte sie daran auf die andere Seite zu sehen, wo die rettenden Bäume auf sie warteten.

    Ich nehme nicht an das dies Absicht war...

    Das Händchen bringt den Hut <.< Genial ^^

    Warten schlimmer als waten, herrlich XD

    Und dieses Mordlicht ist ganz schön gruslig...

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    1. Doch, das muss so. Schwatten sind die seltsamen Schattenwesen. Und der Nbele ist eben das, aus was Nabelsuppe besteht. Wäre es Nebel, würde ich mir echt bei jedem nebligen Tag Gedanken machen... *schauder*

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