Sonntag, 21. Dezember 2014

51. Kapitel



„Phoenix!“
Ich klammerte mich mit aller Kraft an das Seil, aus Angst, dass die Treppe unter mir ebenfalls nachgeben würde. Die Grube war zu tief, als dass ich sie ohne ein weiteres Seil erreichen konnte. Wir mussten alle hochklettern und dann dieses Seil in die Grube lassen. Dann würden wir sie herausziehen können. Ich teilte ihr sofort meinen Plan mit, doch Phoenix schien wenig überzeugt zu sein.
„Diese Hefe ist irgendwas Seltsames. Ich denke nicht, dass sie mich einfach so gehen lassen wird“, meinte sie.
Allein bei ihren Worten sank sie ein Stück tiefer in die Hefe, die sich wie Treibsand zu verhalten schien.
„Keine Sorge, wir bekommen dich da raus“, versicherte ich ihr.
Die anderen hatten bereits mitbekommen was ich vorhatte und so schnell wir konnten, kletterten wir zurück ins Erdgeschoss. Dort banden wir ein zweites Seil an ein anderes Regal, an dem ich ein Stück die Treppe hinuntergelassen wurde, bis ich mich auf Höhe der Falltür befand. Das Seil, das wir alle zum Besteigen der Treppe genutzt hatten, ließ ich in das Hefeloch hinunter, sodass Phoenix sich das Ende um den Bauch binden konnte.
„Und jetzt – zieht!“
Selbst ich zog mit, indem ich meine Füße gegen die untere Seite des Loches stemmte. Hinter mir fühlte ich wie Blue, meine Oma und Freundschaf ebenfalls ihr Bestes gaben. Blue stand ganz vorne, meine Oma dahinter und den hinteren Teil des Seils hatte Freundschaf im Mund. Hannes schrie allen Aufmunterungen oder Beleidigungen zu, je nachdem was am besten zu helfen schien.
„Noch einmal – zieht!“, rief ich.
Doch schon beim ersten Mal hatte ich bemerkt, dass sich Phoenix keinen Millimeter gerührt hatte. Es war als wäre sie in Beton gegossen.
„Das hat keinen Sinn!“, schrie sie uns aus dem Loch zu. „Ich stecke vollkommen fest!“
„Nein, wir schaffen das irgendwie.“
Die Frage war nur wie? Das Bild von Blue, der auf die Trachtenkämpferin einschlug, erschien vor meinem inneren Auge.
„Blue! Nimm eine Pille, von den Medikamenten zum Einschlagen!“, schlug ich vor. „Das gibt extra Kraft, oder?“
„Super Idee!“
Der Zug des Seils ließ kurz nach, während Blue eine seiner Pillen nahm, dann griff er fester zu.
„Und wieder! Ziehen, ziehen!“, kreischte ich.
Wir zogen aus Leibeskräften. Meine Finger fühlten sich an als würden sie abfallen. Überall hatte ich Schürfwunden des Seils, doch ich machte weiter.
Plötzlich gab es einen Ruck. Ja! Wir hatten Phoenix bewegt! Jaaaaa!
Von hinten traf mich etwas am Kopf und ich sah wie das Seil, an dem Phoenix festgebunden war in der Grube mit der Hefe verschwand.
„Sorry, Mia. Das Seil ist gerissen!“, rief Blue mir zu.
Mittlerweile waren mir die Tränen in die Augen getreten. Wir hatten sie nicht bewegt. Keinen Millimeter hatten wir sie bewegt. Stattdessen sah ich nun, dass sie bereits zwanzig Zentimeter weiter eingesackt war als vorher.
„Es hat keinen Sinn“, sagte Phoenix. Sie hatte aufgehört zu rufen, sodass nur ich sie verstehen konnte. „Keine Magie der Welt kann mich aus dieser Hefe befreien.“
„Magie, natürlich! Benutz deine Phoenixfeder!“, erinnerte ich mich.
Die Feder, die schon Oma, den Wachmann und Phoenix vor dem toten Licht gerettet hatte. Die Feder, die Omas verfluchte Augen wieder hinbekommen hatte. Die Feder, mit der man unter Wasser atmen konnte. Sie konnte sich selbst retten, wie sie es vorher schon getan hatte.
„Das wird nichts, Mia“, antwortete sie. „Ich habe es bereits versucht als ihr das Seil fertig gemacht habt. Mich selbst bekomme ich damit nicht aus diesem Loch heraus.“
Mir fiel sofort die Betonung auf dem „mich selbst“ auf. Was genau das bedeutete wurde mir klar, als zuerst der Beutel mit den Tränken aus dem Loch geschwebt kam, dann Phoenix‘ Rucksack mit all ihren Sachen und ihre graue Robbe, die ein trauriges „Oi“ hören ließ, bevor ich sie entgegennahm. Da saß ich nun, mit den Armen voller Sachen, die nicht helfen konnten.
„Blöde Robbe“, schrie ich die arme Robbe an. „Du solltest Glück bringen, haben sie gesagt! Du solltest Glück bringen! Nennst du das Glück?!“
„Wir haben ein neues Seil fertig gemacht! Fang, Mia!“, rief Blue mir zu.
Das Ende eines neuen Seils landete neben mir. Nutzlos. Sinnlos. Es würde nur wieder reißen. Nichts würde funktionieren. Ich hatte es schon gewusst als wir das allererste Mal am allerersten Seil gezogen hatten.
Phoenix sah mich nur mit warmen, braunen Augen an und nickte mir zu als ich begann ihre Sachen an das Seil zu knoten.
„Und zieht.“
Mein Befehl war gerade so zu hören, so erstickt war meine Stimme von den Tränen, die meine Wangen hinunterströmten. Ich brachte es nicht übers Herz den anderen zu sagen was sie als nächstes an Land ziehen würden. Ich hörte nur ihre jubelnden Schreie als sie nach hinten stolperten, da sie auf weniger Widerstand als vorher gestoßen waren. Ich hörte auch als die Jubelschreie verklangen und das „Oi“ der Robbe zu hören war.
„Warum hast du uns Phoenix‘ Zeug hochgeschickt?“ In Blues Stimme hatte sich ein Hauch Verzweiflung geschlichen. Auch er wusste es. „Mia!“
„Es funktioniert nicht!“, schrie ich nur. „Es funktioniert nichts! Nichts, aber auch gar nichts! Egal was wir tun, ob mit einem Seil, mit deinen Kraftpillen, oder der Phoenixfeder, es funktioniert nichts!“
Die Schluchzer ließen sich nicht mehr zurückhalten und meine Stimme war kaum noch zu verstehen. Alle Worte verwandelten sich in einen einzigen Schrei.
„Phoenix!“
„Sie hat Recht!“, schrie Phoenix aus ihrem Loch, dieses Mal so laut, dass auch Blue, meine Oma und die anderen zwei es hören konnten. „Passt auf meine Sachen auf, ja?“
Ihre Stimme war die einzige, die ruhig blieb. Auch Blue fing nun an sie anzuschreien, sie könne nicht aufgeben, wir würden einen Weg finden. Meine Oma war seltsam still und als ich einen Blick zur Tür warf, sah ich neben Blues verzweifeltem Gesicht ihr geschocktes. Sie wusste es auch. Freundschaf stand da, mit hängendem Kopf und hängenden Ohren und dieser Anblick war es, der mir den Rest gab.
Ich ließ mich nur noch vom Seil halten und sackte an der Wand der Treppe zusammen. Die Tränen wollten sich nicht abstellen lassen und das Schluchzen ebenso wenig. Unter mir gab es ein blubberndes Geräusch als die Hefe ein weiteres Stück meiner Gefährtin, meiner Freundin, verschluckte. Das Teufelszeug reichte ihr nun bis zur Brust und sie begann weiter und weiter zu sinken. Nur ihre Arme und ihr Kopf waren noch frei.
„Mia.“
Phoenix‘ Stimme war ruhig als sie in mein tränenüberströmtes Gesicht hinaufblickte, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Ein sanftes Licht leuchtete den Schacht hinauf und schwebte vor mir in der Luft. Von unten gab es ein erneutes Blubbern. Die Hefe stand ihr nun bis zum Hals.
„Das ist… aber…“
Die Phoenixfeder schwebte vor mir und drehte sich langsam um sich. Ein Licht, das zwar hell war, aber mich nicht blendete, ging von der Feder aus und tauchte den Gang in einen gelben Schimmer. Meine Tränen versiegten wie von selbst als wäre es Phoenix‘ Trost selbst, den das Schmuckstück in sich trug, einen Teil ihrer Seele.
„Nimm du sie.“                                                                                       
„Aber… das ist deine Feder! Das bist… du!“ Ich schaffte es nicht meine Gefühle in Worte zu packen, aber Phoenix schien mich trotzdem zu verstehen.
„Genau deshalb. Bewahr sie auf. Erinner dich an mich. Benutz sie, um andere zu beschützen. Aber denk immer dran, es Lebenskraft kostet sie zu benutzen.“
Zögernd griff ich nach der Feder, die aufhörte zu leuchten sobald ich sie mir um den Hals gehängt hatte. Ohne Licht war die Dunkelheit noch schwärzer als vorher und meine Tränen kehrten zurück. Ein erneutes Geräusch von unten sagte mir, dass die Hefe Phoenix weiter verschluckte.
Ich hatte Angst nach unten zu sehen, weil ich damit rechnete nur noch eine glatte Oberfläche zu sehen. Zurückhalten konnte ich mich allerdings auch nicht. Ich schaute nach unten. Noch sah Phoenix zu mir hoch. Ihre Arme waren verschwunden und ihr Gesicht war nur noch von der Nasenspitze bis zu den Ohren zu sehen.
„Phoenix…“ Das Flüstern war von Blue gekommen, der urplötzlich neben mir aufgetaucht war. Er hatte sich das Seil, das eigentlich für Phoenix‘ Rettung gedacht gewesen war, selbst um den Bauch gebunden und starrte voller Entsetzen in das Loch hinunter. „Phoenix!“
„Pass mir ja auf Mia und die anderen auf“, drohte sie ihm. „Ihr werdet euch noch so einige Male gegenseitig das Leben retten müssen.“
Ich hätte nie gedacht, dass dieser Tag kommen würde, doch nachdem Blue mich heute schon einmal überrascht hatte, tat er es gleich ein zweites Mal. Er begann zu weinen.
Zwar war das Lächeln immer noch auf ihrem Gesicht, aber in Phoenix‘ Augen konnte ich den Schmerz sehen. Ich konnte nicht wegsehen, konnte sie nicht allein lassen, obwohl ich wusste, dass dieses Bild mich mein Leben lang verfolgen würde. Ich wusste was als nächstes geschehen würde, doch es traf mich trotzdem mit der Wucht einer Abrissbirne.
Mit einem letzten Blubbern verschwand Phoenix komplett. Ihr Gesicht wurde langsam von der braunen Masse umschlossen, floss in Mund und Nase bis selbst ihre Augen verschwunden waren, aus denen im letzten Moment noch eine einzige Träne gequollen war.
„PHOENIX!!!“
Ich dachte weder nach, noch hatte ich die Kontrolle über meinen Körper. Mit einer flüssigen Bewegung war das Seil, das mich hielt, mit meinem dreiklinkigen Messer durchgeschnitten und ich war bereit mich in das Loch zu stürzen. Wenn ich sie nur rechtzeitig erreichte würde ich sie aus der Masse herausziehen können als wäre nichts gewesen. Ich könnte an ihrer Stelle untergehen. Vielleicht würde sich das Teufelszeug auf einen Tausch einlassen.
Doch zwei übermenschlich starke Arme umfassten meine Taille und zogen mich vom Loch zurück.
„Lass mich los! Lass mich los!“, kreischte ich und trat und strampelte. „Wir müssen etwas unternehmen!“
Blues Griff war eisern. Selbst ohne seine Kraftpillen konnte ich mich mit ihm nicht messen. Mit ihnen war er tausendmal stärker als ich. Es schien ihn nicht einmal Anstrengung zu kosten mich festzuhalten während er sich mit einer Hand am Seil von der Treppe zog. In meiner Brusttasche grub sich Fluffles mit seinen Krallen in meine Brust, da mein Gezappel es aus der Tasche werfen könnte. Mein Blick war immer noch auf die Falltür gerichtet.
Mit einem finalen Krachen schlug die Falltür zu und verschloss das Loch, in dem Phoenix gestorben war.
Gestorben. Sie war gestorben. Sie war tot.
Die Erkenntnis traf mich endgültig und ich hörte auch mich zu wehren. Stattdessen klammerte ich mich an Blues Schulter fest und verbarg meine Tränen hinter einem Vorhang aus schwarzen Haaren. Die Feder auf meiner Brust fühlte sich warm an, ob wegen Phoenix‘ Körperwärme, meiner, oder weil sie geleuchtet hatte, wusste ich nicht. Aber es war als würde ich ein winziges Stück meiner Freundin um den Hals tragen.
Meine Oma, Freundschaf und Hannes warteten am Ende der Treppe. Neben ihnen standen der Rucksack und der Beutel mit den Tränken. Die blöden Tränke. Hätte mich Blue nicht gehalten und wäre ich in der Lage gewesen mehr zu tun als zu weinen, hätte ich sie auf der Stelle zerbrochen. Ich wollte sie gegen die Wände schmeißen bis die Flüssigkeiten den Staub zur Seite wischten, wollte die Scherben unter meinen Stiefeln zermahlen. Wegen ihnen war Phoenix gestorben und ihr Leben war mehr wert als alle Magie der Welt.
Freundschaf hatte immer noch denselben Blick aufgesetzt, schien aber noch mehr in sich zusammengesunken zu sein. Hannes hockte auf seinem Kopf und kraulte es abwesend zwischen den Ohren.  Sein mitleidiger Blick traf mich. Ich sah weg. Er hatte Phoenix noch nicht lange gekannt. Wie lange war es gewesen? Ein Tag? Zwei?
Wenn ich ehrlich war, kannte auch ich Phoenix nicht lange, gerade einmal zwei Wochen, und doch fühlte es sich an wie eine Ewigkeit. Ich wusste nichts über sie, über das, was sie erlebt und getan hatte, die Personen, die ihr wichtig gewesen waren. Aber in den letzten Wochen war ich zu einer dieser Personen geworden, zusammen mit meiner Oma und Blue. Und sie war eine Freundin für mich geworden. Man überlebte nicht zusammen Seeschlachten und Bunnyinvasionen ohne einander ans Herz zu wachsen.
„Sie ist tot.“
Die Worte aus meinem Wort klangen hohl und auf meiner Zunge schmeckten sie wie Asche.
„Sie ist tot.“
Meine Oma griff den Regenschirm fester, als wollte sie ihn erwürgen. Das erste Mal seit ich sie kannte war das Lächeln komplett aus ihrem Gesicht verschwunden. Korrigiere, das zweite Mal. Das erste Mal war gewesen als mein Großvater gestorben war.
Ansonsten lachte ihr Optimismus aus jedem Lachfältchen in ihrem Gesicht, selbst wenn sie noch so traurig war. Ihre Mundwinkel kringelten sich immer ein winziges bisschen, selbst wenn sie so schlechte Laune hatte, dass sie sogar Gewitterwolken Konkurrenz machen konnte. Doch jetzt sah sie nur traurig aus. Traurig und erschöpft und so, so müde.
Blue setzte mich ab und sofort klappten meine Beine unter mir weg. Ich sackte auf dem Boden zusammen, direkt neben der Treppe, mit einem perfekten Blick auf die Stelle, an der das Loch gewesen war.

5 Kommentare:

  1. Phönix. Einfach so! Jetzt verstehe ich warum ich in der Drachenschenke immer angeklagt wurde wenn einer meiner Charaktere gestorben war... wie hast du dich beim Schreiben gefühlt Kim?

    Wie auch immer... jetzt kann sie sich zu all den anderen Charakteren auf dem Chara-Friedhof gesellen.

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    1. Ich habe mich natürlich echt mies gefühlt! Aber irgendwie musste es sein...

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  2. Oh, wie entsetzlich. Ich bin total geschockt.

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    1. War ich auch. Ich saß mehr oder weniger vor meinem Laptop und habe den angeschrien. Das war nämlich absolut nicht geplant...

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