Montag, 22. Dezember 2014

52. Kapitel



Es war tiefste Nacht als wir zum Haus der Hexe zurückkehrten. Nur in ihrem Arbeitszimmer brannte noch Licht. Im Warteraum war niemand. Mit Klopfen hielt ich mich nicht auf, sondern stürmte durch alle Türen bis ins Arbeitszimmer. Sie stand mit dem Rücken zu mir, vor ihr ein feinmaschiger Vogelkäfig.
„Ich habe inzwischen alle Schleifen eingefangen. Zuerst wollte ich die ja nass machen und einfrieren, weil die mich so geärgert haben, aber das habe ich nicht fertig gebracht.“ Sie deutete auf den Käfig. „Also habe ich einen alten Vogelkäfig mit feinen Netzen überzogen und die kleinen frechen Flatterdinger da reingesetzt. Toll finden die das nicht, aber ich fände es auch nicht besonders toll sie wieder jagen zu müssen.“
Endlich drehte sie sich zu mir um. Die anderen waren ein wenig zurückgeblieben, außer Blue, der keuchend im Türrahmen lehnte. Meine Oma lief noch irgendwo vor dem Haus herum, da sie kaum noch gerade stehen konnte und ihren Regenschirm als Stütze missbrauchte. Ich war den ganzen Weg hierher gerannt.
„Was ist los?“, fragte die Hexe als sie einen Blick auf mein Gesicht warf. „Oh.“ Ihre Augen waren weit geworden.
„Warum hast du uns nichts gesagt?!“, schrie ich sie an.
Sie versuchte einen Schritt zurückzuweichen, doch da stand ihr Schreibtisch und versperrte ihr den Weg. Sehr gut. Keine Fluchtmöglichkeit.
„Die ganzen Fallen! Der Rum und die Sahne gingen ja noch, aber warum diese scheiß verdammte Falltür?!?!“
Ich kochte vor Wut. Die hatte mich im Griff seit ich mich vom Boden des Hexenhauses erhoben hatte. Sie war das einzige, was mich dazu gebracht hatte überhaupt aufzustehen.
„Wer“, flüsterte Estelle.
„WAruM?!“ Meine Stimme überschlug sich. Wenn ich weiter so brüllte würde ich heiser werden, aber es scherte mich einen feuchten Dreck. „Sie hätte nicht sterben müssen wenn du uns vorgewarnt hättest!“
„Aber das konnte ich nicht“, stammelte die Hexe. „Es ist Teil des Fluchs, damit niemand geht und mich davon befreit! Aber als ich gesehen habe, dass ihr Freundschaf dabeihabt und die Hand… ihr wart die ersten, die überhaupt eine Chance hatten!“
„Ach halt den Rand!“
Mittlerweile kreischte ich nur noch. Ein winziges bisschen höher und ich würde nur mit meiner Stimme die Einmachgläser zertrümmern können. Das wäre doch genau die richtige Strafe. So ein richtiger Tropensturm in diesem hübschen kleinen Haus dieser fiesen kleinen Hexe.
„Beruhige dich, Mia.“
Blue umfasste mich von hinten. Anscheinend war er meinem Blick gefolgt und hatte keine Lust auf einen Tropensturm. Allerdings war der Effekt der Stärkepillen längst vorbei und er hatte nur noch seine normale Kraft. Die war zwar immer noch beachtlich, doch ich war wütend. Und wenn ich wütend war, dann kam das dem Ausbruch eines Vulkans gleich.
„Ich werde mich nicht beruhigen! Und jetzt lass mich los!“, schrie ich ihn an.
Meine Oma war hinter uns in der Tür erschienen. Neben ihr im Türrahmen stand Freundschaf mit Hannes auf seinem Rücken. Die Feder an meinem Hals war immer noch warm.
„Lass mich los, jetzt sofort“, funkelte ich ihn an.
Wenn Blicke töten könnten wäre Blue augenblicklich umgefallen. Wenn ich das einstellen könnte wie meine Oma mit ihrem Starb, wäre er zumindest ohnmächtig. Die Phoenixfeder war mir die ganze Zeit warm vorgekommen, doch nun verbrannte sie mir regelrecht die Haut.
„Lass mich los!“
Die Wut, die sich in meinem Inneren befand, breitete sich als Druckwelle im Zimmer aus. Nun zersprangen die Gläser doch. Der Käfig mit den Schleifen verbog sich und Blue sowie die Hexe wurden zurückgeschleudert. Blue landete weich auf Freundschaf. Estelle landete weit weniger weich auf ihrem Schreibtisch.
Alle starrten mich entgeistert an. Vom Regal her erhob sich der Minitropensturm und nahm langsam an Geschwindigkeit und Größe zu. Estelle riss ihren Blick von mir los und knallte stattdessen eine Holztruhe, die ebenfalls durch den Raum geflogen war, über den Sturm und schloss in darin ein.
Das Glas mit dem Ministerium war nur umgefallen. Anscheinend war der Fluch, der es gefangen hielt wirklich stark. Alle anderen Tränke, Flaschen, Falschen und Krüge waren jedoch zersprungen und verteilten ihren Inhalt über sämtliche Regale und den Boden. Wo sich Substanzen vermischten, gab es teilweise Funken, oder Pflanzen sprossen plötzlich aus dem Boden.
Estelle stand direkt vor mir. Ich könnte sie umbringen, vor allem jetzt, wo ich bemerkt hatte wie mächtig die Feder sein konnte. Aber mit der Druckwelle war auch all meine Wut verraucht und ich fühlte mich wieder leer. Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und schloss die Augen. Dann wartete ich auf die Tränen. Doch es kam keine einzige mehr. Vielleicht waren sie alle aufgebraucht, Tränen des Schmerzes und Tränen der Wut.
Neben mir schoss eine seltsame türkis-weiß gefleckte Pflanze in die Höhe und als es an der Decke nicht weiterging, durchbrach das Gewächs diese kurzerhand, um nach draußen zu wachsen. Kurz ertönte noch ein Poltern als das Dach eingerissen wurde und einige Ziegeln den Abgang machten, dann war Stille.
„Phoenix?“, fragte Estelle zögerlich.
„Ja“, bestätigte Blue. „Sie ist in die Hefe gefallen.“
„Das tut mir leid.“
Er schnaubte nur und lehnte sich an den anderen Türrahmen. Das machte mir bewusst, dass ich nicht die einzige war, die wütend war. Den anderen ging es nicht besser. Nur hatten die sich besser unter Kontrolle. Da standen wir nun, alle aufgereiht. Nur eine fehlte.
„Mäh“, machte Freundschaf und schob einen Beutel hinüber, den es den ganzen Weg über getragen hatte.
Gut für Estelle. Hätten Blue oder ich ihn gehabt wäre das Zeug bei meinem sprichwörtlichen Wutausbruch zu Bruch gegangen. Immer noch zögernd griff Estelle nach dem Beutel und legte ihn auf den Schreibtisch ohne sich den Inhalt genauer anzusehen.
„Es tut mir wirklich unendlich leid“, sagte sie erneut.
Der Ernst in ihrer Stimme ließ mich aufblicken. Sie sah mir genau in die Augen und ich hatte ein wenig das Gefühl ein Plotbunny anzusehen. Ich sollte ihr verzeihen. Wenn sie die Wahrheit sagte, konnte sie nichts dafür. Und sie hatte uns gewarnt, dass es gefährlich werden würde. Auf ihre Weise. Trotzdem brachte ich nur eine gleichmütige Maske zustande. Sie konnte um Verzeihung bitten solange sie wollte. Zumindest von mir würde sie sie nie bekommen.
„Wie hast du das eben gemacht?“, fragte sie, als sie sah, dass sie von mir keine Antwort erhalten würde. „Du bist keine Hexe, das hätte ich gespürt.“
Ich zog nur die Kette mit der Phoenixfeder unter meinem Oberteil hervor. Sie leuchtete wieder und pulsierte wie ein lebendiges Wesen. Immer noch hatte ich das Gefühl, dass ein Teil von Phoenix in dieser Feder weiterlebte. Und nicht nur von ihr. Auch von der unbekannten Magierin, die sie geliebt hatte.
„Eine sehr mächtige Magierin muss das erschaffen haben“, flüsterte Estelle ehrfürchtig.
Die Blicke von Blue und meiner Oma konnte ich immer noch auf mir spüren. Ich war so voller Wut und Trauer gewesen, dass ich ihnen noch nicht gesagt hatte was Phoenix mir vermacht hatte.
„Sie hat sie dir geschenkt?“, fragte meine Oma nun sanft.
Ich nickte nur, aus Angst, dass ich wieder anfangen würde zu schreien sobald ich den Mund aufmachte. Oder zu schluchzen, denn ich spürte die Tränen nun doch kommen. Dieses Mal kämpfte ich dagegen an. Für heute hatte ich genug geweint. Ich hatte den Rest meines Lebens um weitere Tränen zu vergießen.
„Estelle, vielleicht solltest du deinen Fluchbrecher zusammenbrauen“, meinte meine Oma liebenswürdig. „Wir würden uns gerne irgendwo hinlegen, um uns auszuruhen. Es war eine anstrengende Nacht.“
Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Ich starrte Estelle erneut wütend an und die zuckte zusammen. Die Feder um meinen Hals gab einen helleren Lichtimpuls aus.
„Mia.“ Meine Oma griff nach meiner Schulter. „Wir haben immer noch eine Mission zu erfüllen. Jetzt müssen wir es außerdem für Phoenix tun.“
Wie schlaftrunken nickte ich. Blue nahm meinen Arm und zog mich aus dem Raum, während meine Oma nach Betten oder Sofas fragte. Es gab sogar Betten. Anscheinend pflegte Estelle manchmal Kranke hier, die nicht aus eigener Kraft nach Hause laufen konnten. Verdammte gute Hexe. Haha.
In diesen Betten machten wir es uns bequem. Fluffles kuschelte sich an meinen Hals, als würde es spüren, dass ich heute Nacht Trost brauchte. Trotzdem machte ich die ganze Nacht kein Auge zu.
Phoenix‘ Robbe hatte die Nacht ebenfalls in meinem Bett begonnen. Sie hatte sich wieder in eine richtige Robbe zurückverwandelt, da es niemanden mehr gab, der sie als Robe tragen würde. Sie gab ab und zu ein klagendes „Oi“, von sich, war aber ansonsten still.
Irgendwann in der Nacht verschwand sie einfach aus meinem Bett. Nicht so, dass sie aufgestanden wäre oder Ähnliches, sondern dass sie wirklich verschwand. Ich vermutete, dass sie zum Sonnenschrein zurückgekehrt war, da ihre Trägerin gestorben war. Die Robben würden bei uns bleiben bis wir unseren Auftrag ausgeführt hatten, hatte man uns gesagt. Oder anscheinend bis wir dabei versagten.
Freundschaf schien bemerkt zu haben, dass ich vor Trauer nicht schlafen konnte, denn es hockte sich neben mein Bett und ließ meine Tränen in seine Wolle laufen. Das rhythmische Geräusch von Freundschafs Atemzügen und das gleichmäßige Schnaufen mussten mich irgendwann eingeschäfert haben, denn am nächsten Morgen stellte ich fest, dass ich tatsächlich geschlafen hatte.

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