Samstag, 20. Dezember 2014

50. Kapitel



Das alte Hexenhaus hatte nur bedingt Ähnlichkeit mit dem Haus, in dem Estelle nun wohnte. Vom grundlegenden Stil her war es ähnlich, doch das Blumengitter war so von Efeu überwuchert, dass es kaum noch zu erkennen war, das halbe Dach war eingefallen und Fenster und Türen hingen aus ihren Angeln. Außerdem hatte der Efeu, der am Gitter emporrankte, beinah das ganze Haus umschlungen und schien sogar durch das Loch im Dach ins Haus hineinzuwachsen.
„Entzückend“, grummelte ich.
„So gefährlich sieht es doch gar nicht aus“, meinte Blue.
Hannes hockte auf meiner Schulter, wie immer, obwohl ich versucht hatte ihn davon zu überzeugen bei der Hexe zu bleiben damit er nicht in Gefahr geriet. Dieser Versuch war allerdings nur halbherzig gewesen, da ich langsam mitbekommen hatte, dass er sich sowieso nicht daran halten würde. Vermutlich erinnerte es ihn daran wie er im Schloss des Könlings von allen behandelt worden war.
Gerade deshalb versuchte ich es immer wieder, einfach um ihn zu ärgern. Was ein weiterer Grund dafür war, dass er mitgekommen war, war die Vorstellung mit einer Hexe allein in einem Haus zu sein. Zwar hatte er Mitleid mit ihr, aber sein Misstrauen war stärker. Was das anging konnte ich ihm nicht böse sein.
„Mäh“, machte Freundschaf, das neben uns ging.
Es hatte sich ebenfalls nicht abwimmeln lassen, aber auch darum war ich nicht böse. Ein fluchbrechendes Schaf konnte durchaus hilfreich sein, wenn man in das verlassene Haus einer Hexe einbrach.
„Na dann“, murmelte Phoenix.
Sie schien ebenfalls ein paar Vorbehalte zu haben. Die einzige, die munter voranging und beinah schon bei der Tür des Hauses angekommen war, war meine Oma. Diese stieß sie mit ihrem Regenschirm auf und winkte uns zu.
„Kommt schon!“
„Na dann“, wiederholte ich was Phoenix gesagt hatte und folgte meiner Oma.
Die war mittlerweile bereits im Haus verschwunden. Vor der Schwelle zögerte ich einen Moment, dann holte ich noch einmal Luft und betrat das Haus.
Im Gegensatz zum neuen Haus bestand dieses hier aus nur einem einzigen Raum. An den Wänden reihte sich ein Regal nach dem anderen und dazwischen standen immer wieder Tische. Überall standen oder lagen Flaschen und Boxen, alle verstaubt. Vielleicht war es nur meine Voreingenommenheit, doch mir kam es vor als hätte der ganze Raum eine düstere Atmosphäre, die sich über alles gelegt hatte wie die Schicht aus Staub.
„Sie meinte wir müssen im Untergeschoss suchen“, murmelte Phoenix.
Zumindest diese Richtungsangabe hatten wir bekommen. Super. Danke dafür. Wir teilten uns auf und suchten nach einer Treppe, doch im ganzen Raum schien es keine Möglichkeit zu geben nach oben oder unten zu kommen. Dabei musste es auch einen Zugang zum Obergeschoss geben. Das eingestürzte Dach hatte dieses Stockwerk nämlich verschont, obwohl die Decke an einer Stelle aussah als würde sie nachgeben wenn sich nur ein weiteres Laubblatt darauf niederließ.
„Hier!“, quakte Hannes aufgeregt. „Freundschaf hat etwas gefunden!“
Die beiden standen zwischen zwei Regalen. Freundschaf hatte seine Schnauze in den Spalt zwischen den Holzkonstruktionen versenkt und Hannes versuchte mit seinen Froschfingern die Möbelstücke auseinander zu ziehen. Da war es wirklich unpraktisch ein Schaf oder ein Frosch zu sein.
„Lass mich mal ran“, bat ich die beiden.
Ich griff in die Lücke. Die Regale knarrten und einige der Gegenstände in ihnen fielen um. Vielleicht war das eine der Konstruktionen wo man etwas aus dem Regal ziehen musste, aber da die Dinger bis zur Decke gingen und voller Krimskrams waren, wollte ich mir das Durchsuchen ersparen.
Stattdessen zog ich weiter an dem Teil bis ich einen handbreiten Spalt erzeugt hatte. Dahinter konnte ich tatsächlich ein paar Treppenstufen erahnen. Blue stand nun neben mir und zog ebenfalls an einem Regal. Phoenix zog von der anderen Seite und endlich, mit einem lauten Krachen, ließen sich die Regale zur Seite schieben und offenbarten eine Treppe.
Sie führte sowohl nach oben, als auch nach unten, obwohl es aussah als hätte von oben ein wenig Gerümpel des Dachs die Treppe blockiert. Phoenix zog eine Taschenlampe aus ihrem Rucksack und leuchtete die Treppe an, die in den Keller führte. Allein die Spinnenweben in den Ecken ließen mich schaudern. Außerdem konnte man nicht bis ganz nach unten sehen, weil die Treppe eine Kurve machte.
„Dann woll’n wir mal!“, meinte meine Oma enthusiastisch und ging als erste zwischen den Regalen hindurch. Ich folgte zögerlich, Freundschaf und Hannes an meiner Seite. Hinter mir kamen Blue und Phoenix. Diese reichte mir die Taschenlampe nach vorne und brachte stattdessen ihre Feder zum Leuchten, sodass wir alle von lebendigem Licht umgeben waren.
Obwohl es vermutlich eine reine Vorsichtsmaßnahme war, führte es eher dazu, dass ich mehr Panik bekam, als dass ich von dem extra Schutz beruhigt war. Vermutlich weil mir die Feder in Erinnerung rief was alles für grauenhafte Flüche dort unten auf uns warten könnten.
Sobald Blue als letzte Person unserer Gruppe die Treppe betreten hatte, klappten plötzlich die Stufen um. Die Treppe verwandelte sich in eine sehr staubige Rutsche und unter lautem Kreischen wurden wir alle ins untere Stockwerk geschleudert.
Es gab ein lautes Platschen und wir schlugen auf – weich, denn der gesamte Keller war mit einer Flüssigkeit gefüllt. Allein der Geruch raubte mir fast die Sinne und ich fragte mich warum nicht sämtliche Besoffene der Gegend davon angelockt wurden.
Hinter mir gab es ein klägliches „Mäh“ und ein lautes Quaken. Der Prinz und Freundschaf waren ebenfalls hier im Rum. Der ging mir immerhin nur bis zu den Knien, was bedeutete, dass Freundschaf darin stehen konnte und nicht in Rum ertrinken musste. Hannes allerdings, der prustend aus der Brühe auftauchte, tat mir leid. Sofort kletterte er wieder auf Freundschafs Rücken, aber er musste schon eine ordentliche Portion des Alkohols abbekommen haben.
Die einzige, die sich nicht mit Rum bedeckt hatte, waren Phoenix und Blue. Der hatte es irgendwie geschafft sich mit seinem Schwert in der Treppe zu verkeilen und Phoenix an ihrer Robbe festzuhalten. Und Fluffles, denn das hockte immer noch in meiner Brusttasche. Die Taschenlampe funktionierte, also ließ ich den Lichtkegel durch den Rum schweifen.
„Es ist wirklich bloß Rum, ihr beiden“, rief ich ihnen schließlich zu. „Bisher zumindest.“
Obwohl der Gestank wirklich bestialisch war. Wenn wir uns nicht beeilten, würde ich allein davon besoffen werden und dann konnten wir es vergessen hier irgendwas zu finden.
Meine einzige Erfahrung mit alkoholischen Getränken war keine besonders tolle gewesen. Zu meinem 15. Geburtstag hatten einige Freunde gemeint ich müsste unbedingt mal abgefüllt werden. Dazu hatten sie mir einen Cocktail nach dem anderen spendiert, nur um danach zu härteren Geschützen zu greifen. Es war ein Wunder, dass ich mich noch an einen Großteil des Abends erinnerte. Den Morgen des nächsten Tages hingegen würde ich liebend gern vergessen, konnte es aber nicht.
Blue ließ Phoenix los, die mit beiden Füßen im Rum landete, dann löste er sein Schwert und folgte ebenfalls.
„Irgendwo hier müssen diese Flaschen sein. Estelle meinte sie wären auf dem Regal auf der anderen Seite des Rums… äh Raums“, sagte meine Oma.
Was war eigentlich mit unseren Robben? Würden die auch betrunken werden wenn wir uns hier länger aufhielten? Wie würden sich wohl betrunkene Robben verhalten? Ich beschloss, dass ich das lieber nicht herausfinden wollte und folgte meiner Oma missmutig durch die Flüssigkeit. Wenn das hier die neumodische Variante eines Knusperhauses war, mochte ich sie nicht besonders.
Dieses Gefühl verstärkte sich nur als sich über uns eine riesige Klappe öffnete und eine große Portion Sahne auf uns alle herabfiel. Ich hatte einen perfekten Blick auf die gesahnte Gruppe, denn nun fiel von oben ein wenig Tageslicht in den Keller. Trotzdem wischte ich die Sahne von der Taschenlampe und, so gut ich konnte, von meiner Robbe sowie aus meinen Haaren. Freundschaf sah nun aus wie wandelnde Zuckerwatte, allein schon weil es schon immer ein wenig wie Zuckerwatte ausgesehen hatte. Wollte die uns in wandelnde Cocktails verwandeln? Das dürfte doch nicht wahr sein!
Ein verzweifeltes Quaken erinnerte mich an Hannes‘ missliche Lage, denn er war unter der Sahne auf Freundschafs Rücken begraben. Ich schob alles, was ich an Sahne erwischen konnte, von Freundschafs Rücken und setzte Hannes auf eine freie Stelle. Er schwankte ein wenig, was meine Befürchtung bestätigte er könnte anfangen besoffen zu werden.
„Danke“, murmelte er.
„Kein Problem.“
Ich ließ die Taschenlampe über die Regale schweifen bis ich eins entdeckte, das vielversprechend aussah. Es schien ein klein wenig anders zu sein als die restlichen Regale, was mich vermuten ließ, dass dort die wichtigsten Zutaten für Tränke und Zauber aufbewahrt wurden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde es von diversen Flüchen und Zaubern beschützt.
„Das da“, meinte ich und deutete auf das Objekt meiner Wahl.
„Das denke ich auch“, stimmte Phoenix mir zu. Sie hatte die Hand mit ihrer Phoenixfeder ausgestreckt als würde sie sich stark konzentrieren. „Dort hinten gibt es starke Magie.“
Das war eins der wenigen Male wo ich es hasste meine Vermutung bestätigt zu wissen. „Wie kommen wir da dran?“
„Ich kann’s ja versuchen“, meinte Hannes. Ich meinte festzustellen, dass er ein wenig undeutlich sprach und stärker schwankte als vorher. „Bei mir is sowieso alles zu spät.“
„Dann kann genauso gut ich das tun, denn ich habe eh schon eine meiner Hände verloren“, sagte meine Oma.
„Vergiss es, sonst verlierst du deine andere auch noch.“ Das kam ja mal gar nicht in die Tüte. Da würde eher ich das verfluchte Ding anfassen.
„Mäh“, machte Freundschaf und trottete auf das Regal zu.
„Freundschaf scheint meiner Meinung zu sein. Nich wahr?“, lallte Hannes.
Aber Freundschaf hatte einen anderen Plan. Neben meiner Oma blieb es stehen und starrte angestrengt auf die Tasche, in der sich ihre rechte Hand befand. Diese schien etwas schneller denken zu können als meine Oma – wenn ich auch begann mich zu fragen mit was genau die Hand dachte – denn sie lief ihren Arm hinunter und sprang auf Freundschafs Rücken. Ich war geistesgegenwärtig genug Hannes vom Rücken des Schafs zu schnappen, der sonst bei der nächsten Gelegenheit auf das Regal gesprungen wäre.
„Lass mich“, protestierte er. „Ich will helfen. Das is das einzige wozu ich gut bin!“
„Nein, es gibt bestimmt noch mehr. Sterben kannst du wann anders“, versicherte ich ihm.
Er versuchte sich mit seinen glitschigen Armen und Beinen aus meinem Griff zu winden, doch ich hielt ihn einfach mit beiden Händen. Wie unpraktisch es sein musste ein Frosch zu sein.
Freundschaf hatte mittlerweile das Regal erreicht, während Hand auf seinem Kopf saß. Sobald die Schafsnase nah genug an einem der Regalbretter war, sprang die Hand hinauf und kroch über das Regal. Ein seltsames Licht hatte das Möbelstück ergriffen. Fast kam es mir vor als würde es eine Welle von Wut abstrahlen, darüber, dass es jemand wagte in ihm herumzukramen.
Hand störte das jedoch nicht. Sie winkte uns munter zu, als warte sie nur darauf, dass wir ihr sagten was zu holen war.
Phoenix listete nacheinander alles auf, was Estelle uns gesagt hatte. Es waren größtenteils Namen von Dingen, von denen ich nie gehört, geschweige denn sie gesehen hatte. Hand jedoch fand alles schnell. Immer wenn eine Sache entdeckt worden war, warf sie es Freundschaf herunter, das die Flaschen und Kästchen mit dem Maul auffing. Dann watete es durch den Rum zu Phoenix, die alles in einen Beutel packte.
Wenn ein Regalbrett durchsucht worden war, hangelte Hand sich zum nächsthöheren, um dort weiterzumachen. Auf diese Weise kam keiner von uns mit Flüchen oder Zaubern in Kontakt – keiner zumindest, der nicht immun dagegen war, was sowohl Hand als auch Freundschaf zu sein schienen.
Bei beiden machte das sogar Sinn. Hand war selbst ein verfluchtes Objekt. Da fiel es nicht weiter auf wenn sie auf einem Regal mit anderen verfluchten Sachen herumkletterte. Freundschaf war ein fluchbrechendes Schaf, was nicht alle Tage vorkam und wogegen das Regal sicherlich nicht gewappnet war.
Nach mehreren Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, waren endlich alle Sachen beisammen und Hand sprang vom Regal zurück auf Freundschafs Rücken. Das Regal knarrte einmal, was sich beinah anhörte wie ein resignierter Seufzer, bevor das Leuchten verschwand und das Möbelstück wieder im Dunkel lag.
Wir arbeiteten uns durch den Rum zurück zur Treppe, obwohl noch keinem von uns eine Idee gekommen war wie wir die wieder hochklettern würden. Letztendlich benutzte Phoenix ihre Feder, um ein Seil dazu zu bringen sich selbstständig die Rutschtreppe hinaufzuschlängeln und oben um eins der Regale zu wickeln. An diesem Seil machten wir uns an den Aufstieg.
Ich hätte es wissen müssen. Die Treppe war bereits das erste Mal eine Falle gewesen. Bei unserem zweiten Aufstieg war es nicht anders. Unter Phoenix, die voran kletterte, tat sich eine Falltür auf. Ich, die ich genau hinter ihr kletterte, versuchte noch ihre Robbe zu erwischen, doch sie glitt mir durch die Finger.
Des Bodens unter ihren Füßen beraubt, schaffte Phoenix es nicht mehr stehen zu bleiben und fiel mit einem verzweifelten Schrei in die Hefe.

5 Kommentare:

  1. Mmh... die Nummer mit dem Rausch kommt mir irgendwie bekannt vor.

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  2. (Zitat) Obwohl der Gestank wirklich bestialisch war. Wenn wir uns nicht beeilten, würde ich allein davon besoffen werden und dann konnten wir es vergessen hier irgendwas zu finden.
    Meine einzige Erfahrung mit alkoholischen Getränken war keine besonders tolle gewesen. Zu meinem 15. Geburtstag hatten einige Freunde gemeint ich müsste unbedingt mal abgefüllt werden. Dazu hatten sie mir einen Cocktail nach dem anderen spendiert, nur um danach zu härteren Geschützen zu greifen. Es war ein Wunder, dass ich mich noch an einen Großteil des Abends erinnerte. Den Morgen des nächsten Tages hingegen würde ich liebend gern vergessen, konnte es aber nicht.

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