Freitag, 19. Dezember 2014

49. Kapitel



Die Tür schwang ohne mein Zutun auf und ich stand plötzlich in einem Flur, der mich an einen Wartesaal beim Arzt erinnerte. An den Wänden stand je eine Stuhlreihe, auf der vereinzelt Leute Platz genommen hatten, überall hingen Landschaftsbilder und ein paar Topfpflanzen schufen eine beruhigende Atmosphäre. Aus einer Tür am anderen Ende des Flures kam gerade ein Mann mit einem bandagierten Gesicht. Er hielt eine kleine Dose in den Händen.
„Und nicht vergessen“, erklang eine Stimme aus dem Raum. „Dreimal pro Tag auftragen und diese hässliche Narbe ist innerhalb von einem Monat verschwunden. Der Nächste bitte!“
Eine junge Frau stand auf und begab sich zum Zimmer, aus dem die Stimme gekommen war.
„Ich bitte um sofortige Erkältung“, hörte ich sie noch beginnen. „Ich kann morgen einfach nicht zur Arbeit…“ Dann fiel die Tür ins Schloss und schnitt ihr das Wort ab.
Wir nahmen auf der Seite Platz, auf der noch die meisten Stühle frei waren. Freundschaf zog einige Blicke auf sich, genau wie der Froschprinz, der sich ein wenig aus meinen Haaren hervorgetraut hatte.
„Warum plötzlich so mutig?“, fragte ich ihn.
„Wenn die wirklich ihre Kräfte verloren hat, wird sie mir wohl kaum was tun“, meinte er. „Außerdem… ich weiß genau wie es sich anfühlt lange Zeit verflucht zu sein. Ich muss einfach ein wenig Mitleid mit ihr haben.“
So hatte ich das noch gar nicht gesehen. Wie schon oft stellte ich fest, dass er gar kein so verzogener Schnösel war wie man vermuten könnte. Vielleicht hatte die Hexe, die ihn verwandelt hatte, zumindest seiner Persönlichkeit etwas Gutes getan als sie ihn in einen Frosch verzaubert hatte.
Wobei… wer konnte schon wissen, ob er nicht auch ohne den Fluch ein netter Mensch geworden wäre? Wenn man es so betrachtete, konnte selbst ich nicht anders als die Hexe hassen, die ihm das angetan hatte.
Die Frau brauchte nicht lange. Anscheinend waren Erkältungen sehr beliebt.
„Denk daran! Nur ein winziger Schluck, sonst hält die Erkältung länger als drei Tage“, ermahnte die Stimme. „Der Nächste bitte!“
Nach und nach wurde es im Warteraum leerer. Eine Person nach der anderen verschwand durch die Tür. Bei einer Mutter mit einem Mädchen etwa in meinem Alter war sogar ein sofortiger Effekt zu beobachten gewesen. Als es das Zimmer betreten hatte, hatte das Gesicht des Mädchens ausgesehen wie eine Mondlandschaft. Als die beiden herauskamen war zumindest ein Teil der Pickel verschwunden und das Mädchen hatte tatsächlich ein Lächeln im Gesicht.
„Der Nächste bitte!“
Jetzt waren wir an der Reihe. Die ganze Gruppe erhob sich und ging durch den Flur ins Arbeitszimmer der Hexe. Ich wusste nicht, was genau ich erwartet hatte, aber das war es nicht.
Auf den ersten Blick hatte es große Ähnlichkeit mit einem normalen Büro. Eine Front Regale stand auf der einen Seite, durch ein Fenster fiel etwas Licht auf einen Tisch, den man gut für einen Schreibtisch halten konnte und einige Stühle waren davor aufgestellt wie in einem Schulleiterbüro.
„Gleich so viele?“, meinte die Frau, die uns die Tür geöffnet hatte und runzelte die Stirn.
Ihr Erscheinungsbild war das einer Frau um die dreißig. Da sie eine Hexe war, war ich mir jedoch nicht sicher ob ich es mir zutraute ihr wahres Alter zu schätzen. Ihre Haare waren kastanienbraun und fielen ihr in leichten Wellen über den Rücken. Sie hatte ein offenes Gesicht und sah selbst mit gerunzelter Stirn noch nett aus.
Einzig ihre Kleidung passte nicht zum Bürostil des Raumes. Sie trug ein Kleid, das ihr bis zu den Füßen ging und eine seltsame Mischung aus gelb und hellbraun zu sein schien. Am Saum und den Ärmeln befanden sich rote Stickereien. Am prominentesten an ihrer Erscheinung war jedoch das rote Band, das ihr um den Kopf lag wie ein Stirnband. Wobei, das einzig Seltsame hier war das nicht. In den Regalen erkannte ich nun einige Gegenstände, die man in einem normalen Büro eher weniger finden würde.
„Was ist das?“, fragte ich, da es mir nicht möglich war meine Neugier zu zügeln.
Die Hexe folgte meinem Blick. „In dem Einmachglas tropt ein Ministurm. Ich habe ihn aus den Tropen mitgebracht, da war ich mal im Urlaub.“
„Der ist ja niedlich.“
„Nicht mehr, wenn er in deinem Wohnzimmer als ausgewachsenes Gewitter unterwegs ist, glaub mir. Ich musste sämtliche Möbel neu beziehen lassen als er mir entwischt ist.“ Sie seufzte.
„Und das da?“ Ich deutete auf das Glas direkt daneben.
„In dem Einmachglas tropft ein Ministerium. Die haben einer anderen Hexe mal wirklich Ärger gemacht und ich versuche schon seit Jahren sie von ihrem Fluch zu erlösen. Alas, bisher…“
Sie gestikulierte mit der Hand auf das Glas, was wohl bedeutete, dass sie es nicht geschafft hatte.
„Genug von Tropenstürmen und Ministerien. Wobei kann ich helfen?“ Ihr Blick fiel zuerst auf Freundschaf, dann auf Hannes. „Ich fürchte ihr seid umsonst gekommen.“
„Wieso? Wir haben doch noch gar nichts gesagt!“, beschwerte sich Blue.
„Ich nehme an ihr seid gekommen, um den Fluch von ihm hier nehmen zu lassen. Aber ich muss euch enttäuschen. Nicht einmal zu meinen besten Zeiten wäre mir das möglich gewesen.“
Dann musste Hannes‘ Fluch besonders stark sein. Ich hatte tatsächlich die Hoffnung gehabt, dass sie Hannes helfen konnte wenn wir schon mal hier waren. Was ich trotzdem beeindruckend fand war, dass Estelle das alles erkennen konnte ohne Hannes untersucht zu haben.
„Nur ein Kuss kann ihn zurückverwandeln. Und so wie es aussieht nur wenn die Person wirklich in ihn verliebt ist.“ Sie sah ihn mitleidig an.
„Sagen Sie das meinen Eltern“, grummelte der Froschprinz. „Die denken wenn sie mich verheiraten, kommt alles in Ordnung, aber deshalb sind wir nicht hier.“
„Bei der Hand kann ich leider auch nicht helfen“, fuhr sie fort. „Der Fluch ist äußerst stark. Sehr alte Magie, nehme ich an. So etwas kommt oft in Grabkammern vor, um die Gegenstände dort zu schützen.“
Das hörte sich ziemlich genau nach dem an, was meine Oma und Phoenix erzählt hatten. Eine Grabkammer war es vielleicht nicht gewesen – trotz der vielen Toten – aber einen Gegenstand zu beschützen hatte es gegeben, selbst wenn der sich jetzt im Besitz meiner Oma befand. Hand gegen Starb. Über den Tausch war ich immer noch nicht glücklich.
„Deshalb sind wir auch nicht da“, unterbrach meine Oma sie freundlich. „Wir haben zwei andere Fragen. Erstens hätten wir hier einen Zeigefinder, der nicht einwandfrei zu funktionieren scheint. Zweitens hätten wir gerne einen Blick auf unsere Zukunft geworfen.“
Estelle runzelte wieder die Stirn und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Bei so vielen Personen könnte das teuer werden. Außerdem würde es mir helfen zu wissen, ob ihr über ein bestimmtes Ereignis Bescheid wissen wollt. Dann wird es leichter.“
„Wir sind auf einer Mission, um die Plotbunnyplage abzuwenden. Dazu benötigen wir die Traveling Shovel of Death – oder eine andere Möglichkeit das NaNo-Land davor zu bewahren von Hasen überrannt zu werden“, erklärte Phoenix. „Wenn sich also irgendetwas davon in der Zukunft von irgendeinem von uns finden lässt, wäre das großartig.“
„Mmh…“ Die Falte über Estelles Nase vertiefte sich und sie kniff den Mund zusammen. „Das könnte schwierig werden. Vielleicht fangen wir mit dem Zeigefinder an.“
Ich hatte das Gerät noch in meiner Robbentasche und legte es auf ihren Schreibtisch. Dort besah die Hexe es sich eine Weile nur von allen Seiten. Dann gab sie selbst etwas ein, nur um die Fehlermeldung zu erhalten. 404-not found. Sie gab erneut etwas ein und der Zeigefinder führte sie zum Tropensturm im Einmachglas.
„Der ist ganz und gar nicht kaputt“, meinte sie schließlich mit einem Lächeln. „Der ist einfach nur stur.“
„Häh? Lebt das Teil denn?“ Blue stupste den Zeigefinder mit dem Zeigefinger an.
„In gewisser Weise. Wenn er nicht will, dass etwas gefunden will, kann man da normalerweise nichts machen. Man muss nach den richtigen Sachen fragen, dann zeigt er auch den Weg.“
Na super. Was waren die richtigen Sachen? Die TSoD war es jedenfalls nicht. Wozu war das Ding dann gut?
„Nun zum Lesen der Zukunft. Das ist etwas schwieriger, da ihr es euch nicht leisten könnt, dass ich auch nur bei einem von euch die Zukunft vorhersage. Solche Anfragen bekomme ich häufiger, aber mehr als Katzenlegen ist da nicht drin.“
„Mehr als was?“, fragte ich entgeistert.
„Katzen. Ich sehe mit meinen Katzen in die Zukunft. Aber das ist zu ungenau für eure Zwecke.“
„Was für eine Zeitverschwendung“, grummelte Blue.
„Vielleicht nicht“, warf Estelle ein.
Kam es mir nur so vor, oder war sie plötzlich nervös? Sie spielte mit ihren langen Fingern herum und war auf einmal ganz stumm geworden. Das war nie ein gutes Zeichen, zumindest meiner Erfahrung nach.
„Was? Raus mit der Sprache.“ Vielleicht war es besser wir wussten es so schnell wie möglich.
„Wenn ich meine Kräfte zurückhätte, könnte ich in die Zukunft sehen. Selbst dann wird es schwierig und wird mich viel Energie kosten, aber es wäre machbar. Dazu müsstet ihr mir dabei helfen das Band loszuwerden. Tilli und Trudi haben euch davon erzählt, nicht wahr?“ Sie deutete auf ihr Stirnband.
Konnte die durch Wände sehen oder wieso wusste sie davon? Ach ja, Hexe. Hatte ich fast vergessen.
„Dazu müsstet ihr in mein altes Hexenhaus gehen. Aber Vorsicht, das ist nicht so ungefährlich wie dieses hier. Bisher hat sich niemand dorthin getraut. Bisher brauchte niemand meine Kräfte genug um es zu wagen. Ich selbst kann nicht gehen. Derselbe Bann, der mir meine Kräfte genommen hat, verhindert auch, dass ich mich dem Haus nähere, um die Zutaten zum Lösen des Fluchs zu holen.“
Das Haus musste ja eine echte Todesfalle sein, wenn niemand ihre Zutaten holen wollte.
„Keine Sorge. Wir erledigen das!“, rief meine Oma da schon.
Ihren Optimismus in Ehren, aber so sicher war ich mir da nicht. Jetzt war es allerdings beschlossene Sache, denn Estelle lächelte uns bereits glücklich an.
„Das würdet ihr wirklich tun?“
„Natürlich“, meinte Oma und tätschelte ihr die Hand. „Wir haben schon ganz andere Sachen überstanden.
„Habt ihr eine Karte? Dann kann ich den Ort einzeichnen“, schlug Estelle vor.
Das ging mir alles zu glatt. Während die Hexe sich über unsere Katze beugte und eifrig darauf herumkritzelte, beobachtete ich sie eingehend. Bisher war sie mir nett vorgekommen, aber irgendwas an der Sache stank zum Himmel, mindestens so schlimm wie Rächerstäbchen.
„Ach, bevor ihr geht… das Plotbunny in deiner Brusttasche ist verletzt, nicht wahr?“
Ich legte meine Hand vorsichtig an die Tasche, in der Fluffles schlief. Das Abenteuer im Wald hatte es genauso geschafft wie uns. Den Kratzer an seinem Hinterbein gab es allerdings auch noch.
Zögernd nahm ich Fluffles heraus, unsicher ob ich es der Hexe anvertrauen konnte. Heute hatte ich genug Angst um mein Bunny gehabt, wenn sie ihm jetzt was antat, konnte sie sich ihre Zutaten sonstwohin stecken.
„Armes Baby“, säuselte sie. „Eine Wunde am Kopf hatte es auch erst vor Kurzem, oder?“
„Ja, dank ihm“, schnaubte ich in Blues Richtung, ohne jedoch die Augen von meinem Bunny zu nehmen. Dass er mit den Augen rollte konnte ich trotzdem sehen.
„Darf ich?“
Estelle hatte ihre Hand ausgestreckt. Wenn sie Fluffles wirklich helfen konnte, würde es ihm weitere Schmerzen ersparen. Das war ich ihm schuldig, denn es hatte uns vor den Banditen gerettet.
„Na gut.“
Zu sehen wie die Hexe ihre Hand auf Fluffles‘ Fell legte und die Augen schloss, führte dazu, dass sich mein Magen anfühlte als würde ich wieder im gesunden Menschenversand sitzen.
„So“, sagte Estelle, keine drei Sekunden später.
Ich kontrollierte die Stelle, wo gerade eben noch die Wunde gewesen war. Es gab nur weiches Fell und Haut.
„Wow! Danke!“
„Dafür will ich nichts. Das arme Ding“, meinte sie nur.
In meiner Achtung stieg sie ein wenig, obwohl sich eine kleine Stimme in meinem Kopf immer noch nicht abschalten ließ. Diese fragte sich ob sie Fluffles nur geheilt hatte um sich bei mit beliebt zu machen.
Aber ob ich Estelle traute oder nicht, zu ihrem Haus würden wir gehen, denn sonst war unsere Mission beendet. Außer der Traveling Shovel of Death hatten wir keinerlei Ideen mehr. Wir brauchten die Informationen, die sie uns geben konnte.
Es stellte sich erst dann heraus, dass man bessere Chancen hatte nachts an das Hexenhaus heranzukommen. Die Gründe dafür wollte oder konnte Estelle uns nicht verraten, was meine Zuversicht in die Aufgabe nicht gerade steigerte.
Trotzdem befanden wir uns allzu bald auf dem Weg zum Hexenhaus. Ein entscheidender Faktor war, dass eins der Einmachgläser kaputt gegangen war als Estelle in einem ihrer Regale gekramt hatte und hunderte von kleinen Schleifen in den Raum entlassen hatte. Diese flatterten um alle Gegenstände herum und ließen sich in unseren Haaren und an unseren Kleidern nieder.
Das hatte meine Oma als Wink des Schicksals gesehen uns auf den Weg zu machen. Wie immer war es ein Trip ins Ungewisse. Langsam fragte ich mich warum ich mich überhaupt auf die Mission eingelassen hatte und nicht, wie alle es von mir erwartet hatten, in Schreibstadt geblieben war. Das hätte mein Leben wesentlich einfacher gemacht.

3 Kommentare:

  1. Hach, schön das sie Fluffles geholfen hat. Ich kann mir nicht helfen, aber der Hexe zu helfen hat für mich etwas von einer Nebenquest in einem RPG...

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    1. Ein bisschen, ja. Allerdings wirst du dann recht überrascht sein was passiert.

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