Sonntag, 3. Dezember 2017

49. Kapitel



Freundschaf schien sich wieder beruhigt zu haben, denn nach einem Blick auf den kalten Sonnenschein draußen, nahm es seine Schnauze aus meiner Hand und begann auf einem Blatt Papier zu kauen, das Himmelrich beim Aufräumen übersehen hatte.
Die anderen waren schon durch die Tür verschwunden, durch die Mathilda gekommen war und ihre Stimmen hörte ich immer gedämpfter.
„Mäh“, machte Freundschaf und schaute mich erwartungsvoll an.
Mein Blick blieb allerdings an dem leeren Buch hängen, das Mathilda so achtlos in weggeworfen hatte. Aus irgendeinem Grund tat es mir beinahe leid. Mehr schlecht als recht wischte ich den Staub vom Buchdeckel und suchte verzweifelt nach einem Klappentext. Ich wusste noch, dass dort einer sein sollte, aber es gab nichts.
Warum bedeutete mir ein leeres Buch etwas? Gab es überhaupt etwas anderes als leere Bücher?
Ich klemmte mir das Buch unter den Arm und zog ein anderes aus dem Regal. Leer. Ich nahm mir ein zweites. Leer. Ein Drittes. Auch leer. Eine halbe Regalreihe bestand nur aus leeren Büchern. Warum hatte sich jemand die Mühe gemacht die alle zu sammeln? Ich erinnerte mich vage an den Rest des Gebäudes und es gab tausende Regale mit tausenden von (vermutlich leeren) Büchern.
Das machte alles keinen Sinn!
„Mia? Kommst du zum Essen?“ Die Stimme meiner Oma drang durch die offene Tür.
„Ja, ich komme!“
Ich schnappte mir das Buch mit dem rot-melierten Umschlag und steckte es in eine Tasche meiner Robe. Ich erwartete ein „oi, oi, oi“ zu hören. Es kam nichts. Warum hatte ich das gedacht? Was hätte eine Robbe hier verloren?
„Mia?“
„Jaaaa!“
Nach einem letzten Blick auf den Raum mit dem einsamen Schreibtisch in der Mitte, beschloss ich meine Freunde nicht länger warten zu lassen.
Freundschaf trabte neben mir her und schaute mich immer wieder mit einem durchdringenden Blick an.
„Was?“, fragte ich es, leicht irritiert.
„Mäh“, machte Freundschaf und schaute geradeaus.
Zu allen Seiten gingen Gänge über Gänge ab. In jedem standen hunderte Regale mit tausenden von Büchern. Als ich durch die Eingangshalle kam und nach oben schaute, waren dort noch mehr Bücher, sodass mir der Anblick fast den Atem raubte. Als ich meinen Kopf in den Nacken legte, wurde mir schwindelig. Über mir waren augenscheinlich hunderte von Etagen, alle mit einem Geländer getrennt von dem Nichts, das sich bis zur höchsten Kuppel der Bibliothek erstreckte.
Nichts…
Die Wände jeder einzelnen Etage waren mit Bücherregalen vollgestellt und soweit ich das sehen konnte lagen auch einige Stapel herum. Alle leer, würde ich wetten. Das machte alles keinen Sinn!
Die anderen saßen in der Küche an einem runden Tisch, während Mathilda in einem Vorratsschrank wühlte. Auf dem Tisch lagen bereits einige Rüben, leicht angeknabberte Karotten und allerlei anderes Gemüse.
„Da bist du ja! Wie geht es deinem Kopf?“ Blue, der versucht hatte eine Rübe auf der Nase zu balancieren, lächelte mich an.
„Ganz gut, glaube ich…“ Der Druck an meinen Schläfen war immer noch da, obwohl ich keinen Schmerz an sich fühlte. „Es ist nur…“
„Was?“ Mit einem dumpfen Knall landete die Rübe auf dem Tisch.
„Naja… habt ihr nicht auch das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt? Es gibt so einige Ungereimtheiten, die einfach keinen Sinn machen. Zum Beispiel warum jemand so viele leere Bücher an einem Ort versammeln würde und warum Martha und Himmelrich die nicht schon längst rausgeworfen haben, wenn sie schon so lange hier wohnen…“
Ich massierte meine Schläfen und ging zum Fenster, in der Hoffnung es öffnen zu können und ein wenig frische Luft zu bekommen. Nach einem Blick nach draußen vergaß ich die frische Luft erstmal.
Direkt vor dem Fenster stand ein Baum.
Ich erinnerte mich dunkel an den letzten Besuch, als Himmelrich und Mathilda uns den Garten gezeigt hatten. Der lag jedoch auf der anderen Seite des Hauses. Das hier war die Vorderseite. In der Ferne konnte ich ein Gebäude mit vielen Säulen sehen. Eine kleine Gestalt rannte am Eingang hin und her; anscheinend versuchte er etwas einzufangen, das wie Wollknäule aussah.
„Müsste euer Haus nicht höher über dem Boden sein?“, fragte ich.
„Höher?“ Mathilda hörte auf die Vorratskammer zu durchwühlen. „Kindchen, ich bin alt genug, um Treppen zu hassen. Ich würde niemals mehr davon als nötig in meinem Haus erlauben.“
„Mmh.“ Von der Logik her machte es Sinn. Von meinem Gefühl her war alles falsch.
„Mäh“, machte Freundschaf.
„Ist das vielleicht deine Familie da hinten?“, fragte ich und deutete auf die weißen springenden Punkte und die verzweifelte winzige Person in der Ferne.
„Mäh“, machte Freundschaf.
„Hey, Mia! Hilfst du uns im Garten?“ Blue versuchte dieses Mal mit drei Rüben zu jonglieren. „Mathilda hat gesagt ihr Rücken macht das nicht mehr so mit.“
„Ähm… eine Frage dazu. Wie kann etwas im Garten wachsen, wenn es Dezember ist?“, fiel mir gerade ein.
„Oh.“ Martha hörte auf das Gemüse zu sortieren. „Natürlich! Ich meinte die Vorratskammer im Garten. In die bringen wir die Kartoffeln und Zwiebeln nach der Ernte damit sie schön kühl gelagert werden.“
Auch das klang logisch, aber irgendwie… hatte sie nicht mal erzählt in ihrem Garten würde wie auf magische Art alles das ganze Jahr durch wachsen? Das konnte nicht stimmen. So funktionierten die Jahreszeiten nicht.
„Ihr könntet mir trotzdem beim Tragen helfen. Für so viele Leute brauchen wir viele Zwiebeln und Kartoffeln.“
„Kein Problem.“ Blue grinste wieder.
Das war mehr Grinsen als ich normalerweise ertragen konnte und heute erst recht. „Gah!“
Er sah mich erschrocken an. „Was habe ich getan?“
„Gah, ich… ich weiß auch nicht! Es ist einfach dieses doofe Gefühl, dass etwas so richtig falsch läuft.“
„Falsch?“ Oma sah mich verwirrt an. „Wir hatten einen so ruhigen Kaffeeklatsch mit guten Freunden und irgendetwas läuft falsch?“
„Ich…“ Seufzend ging ich Richtung Tür. „Holen wir einfach die Kartoffeln.“
Der Vorratsraum im Garten war genau dort, wo Mathilda gesagt hatte. Eine Treppe war in den Boden eingelassen und der Raum darunter war wirklich sehr kühl. Keine Kartoffel würde es wagen hier schlecht zu werden. Zusammen trugen wir das Zeug zurück in die Küche. Den ganzen Weg über war Blue für seine Verhältnisse seltsam leise.
„Okay, tut mir leid was ich eben in der Küche gesagt habe“, brachte ich schließlich heraus. „Aber irgendetwas stimmt einfach nicht! Du musst mir das glauben. Das ist wie… wie…“ Vor Verzweiflung hätte ich am liebsten in eine Kartoffel gebissen, um einen Schrei zu unterdrücken. „Wie eine ganze To-do-Liste abgearbeitet zu haben, aber das Gefühl zu haben, dass man eine wichtige Sache nicht aufgeschrieben hat, die alles verdirbt, was man bereits gemacht hat.“
„…das hört sich frustrierend an.“
„Allerdings“, schnaubte ich. „Und niemand anders scheint es zu bemerken. Und wir schleppen hier Kartoffeln und machen Eintopf und ich habe das Gefühl die Welt geht unter.“
„…bist du sicher, dass du nicht ein wenig übertreibst?“
„Vielleicht. Ja. Nein! Gah.“
„Du solltest ein Buch schreiben“, scherzte er. „Es wird nur aus einsilbigen Wörtern bestehen.“
„Ein Buch schreiben.“ Ich umklammerte die Kartoffeln fester und versuchte die Tränen zu unterdrücken.
Was war bloß los mit mir? Um Himmels Willen! Ich hatte noch nie in meinem Leben ein Buch geschrieben und fing an zu weinen, wenn Blue es nur erwähnte. Vielleicht hatte ich einen Nervenzusammenbruch. Ja, das musste es sein. Nachdem wir die letzten Tage quer durch das NaNo-Land gereist waren, nach dem ganzen Stress…
Warum hatten wir das eigentlich getan? Nur, um hier mit alten Freunden einen Eintopf zu essen?
„Blue, warum sind wir so panisch durch das ganze NaNo-Land gereist?“, fragte ich ihn.
„Mmh…“ Er runzelte die Stirn und verlagerte das Gewicht des Sacks Kartoffeln auf seine andere Seite. „Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht wollten wir irgendwas als Gastgeschenk besorgen, wenn wir Himmelrich und Martha besuchen?“
„Aber wir haben keins mitgebracht.“
„Mmh… Na klar! Wir haben Freundschaf abgeholt! Und es war enorm schwer zu finden. Aber wir wären nicht wir, wenn wir damit nicht fertig werden könnten.“ Er grinste mich an. „Ich würde dir ja ein Highfive geben, aber ich habe einen Sack Kartoffel über der Schulter und der ist schwer.“
Das war es nicht. Wenn ich mich recht erinnerte, war Freundschaf schon am Anfang der Reise mit dabei gewesen. Oder? Bis wir in der Küche ankommen zermartere ich mir das Hirn, um mich zu erinnern was genau wir vor nicht einmal einem Tag gemacht haben. Irgendetwas stimmt gewaltig nicht.
„Mäh“, machte Freundschaf und stupste meine Hand an.
„Ich weiß“, erzählte ich ihm. „Irgendetwas stimmt nicht. Ich weiß nur nicht was…“ Ich konnte die Tränen nicht mehr ganz zurückhalten und wischte mir mit dem Ärmel meiner Robe das Gesicht ab. Wieder vermisste ich das bekannte Geräusch, das ich sonst immer zu hören bekommen hatte.
„Die Robben… Natürlich! Wir haben immer Robben getragen!“
„Robben?“ Phoenix sah mich leicht verwirrt an. „Niemand trägt Robben.“
„Wir haben sie das erste Mal bekommen, als wir die Plotbunnyinvasion…“
Ich sog scharf die Luft ein, während mich alle anstarrten als sei mir ein zweiter Kopf gewachsen. Ich allerdings war froh, dass mein eigener Kopf endlich wieder einen Schritt vorwärts gemacht hatte.
Das war es, was fehlte! Wir hatten die Geschichten verloren. Ich erinnerte mich an keine einzige mehr, nicht einmal ein Märchen. Ich wusste nicht, welche Personen oder Gegenstände aus Geschichten gekommen waren, vermutete aber, dass es all die Dinge waren, die mir seltsam normal vorkamen. Aber dass ich wusste was mir fehlte, war immerhin etwas.
„Es gab mal Geschichten, aber wir haben sie vergessen“, versuchte ich zu erklären.
„Natürlich gab es Geschichten. Aber wenn niemand sie braucht, werden sie vergessen.“ Meine Oma sah mich mitleidig an. „So läuft das nunmal.“
„Nein, so läuft es nicht.“ In diesen Bahnen zu denken war immer noch anstrengend und geistesabwesend streichelte ich Freundschaf. Interessanterweise schien das zu helfen. „Wir hatten einen Plan.“
Ich hatte nicht gewollt, dass wir das Arbeitszimmer nicht verließen. Dort musste etwas sein, das mir weiterhelfen würde. Da mir die anderen sowieso nicht glaubten, stellte ich den Beutel mit Zwiebeln ab, drehte mich auf dem Absatz um und beschloss endlich herauszufinden was mit mir los war.
Das Arbeitszimmer sah aus wie ich es kannte. Der Tisch, an dem wir bis vor kurzem noch Tee und Kekse zu uns genommen hatten, war unverändert. Sogar unsere Tassen waren stehen geblieben. Ein Tisch weiter hinten zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Wenige Bücher stapelten sich auf beiden Seiten. Dazwischen lagen allerlei Schreibutensilien.
Testweise nahm ich eine Feder, tauchte sie in die Tinte und schrieb meinen Namen auf meinen Handrücken.
„Mäh“, machte Freundschaf und drückte mit seiner Nase wieder gegen meine Hand. In meinem Kopf sah ich das Bild einer Feder, die von selbst über Papier glitt und hinter sich Zeilen über Zeilen von Buchstaben hinterließ.
Vorsichtig legte ich die Feder zurück und schaute mich weiter um. Es musste noch etwas geben, das mir helfen würde.
Etwas anderes fiel mir aus dem Augenwinkel auf. Auf einem Hocker nah beim Tisch lag etwas, das leicht bläulich schimmerte. Etwas in meinen Erinnerungen regte sich. Vorsichtig ging ich näher und sah mich einem durchscheinenden, winzigen Etwas gegenüber. Es war wie ein kleines schlafendes Kind, allerdings gerade so groß wie eine Puppe. Es war durchscheinend, sodass ich das Muster des Kissens unter seinem Körper sehen konnte. Ich hatte das unbestimmte Gefühl es schon einmal gesehen zu haben. Verglichen mit einem einzigen Bild, das in meinem Kopf aufblitzte, schien es allerdings an Substanz eingebüßt zu haben.
„Hallo du.“ Sanft stupste ich es mit einem Finger an.
Das Wesen gähnt, streckte sich und sah mich aus großen wundervollen Augen an, als würde es auf etwas warten.
„Was soll ich tun?“
Es legte den Kopf schief und sah mich weiter an. Dann hob es einen Arm und wackelte mit den Fingern. Die Fingerspitzen waren dabei sich in Wohlgefallen aufzulösen.
„Oh nein…“
„Was ist los?“ Blues blauer Haarschopf erschien im Türrahmen. „Ooooh, was ist das?“
Neugierig kam er näher. Hinter ihm traten meine Oma, Phoenix, Mathilda und Himmelrich ebenfalls in den Raum.
„Weißt du etwas darüber wie wir die Geschichten zurückbekommen?“, fragte ich das kleine Wesen, meine Freunde erst einmal ignorierend. Blues Frage konnte ich sowieso nicht beantworten. Ich handelte allein instinktgesteuert. Und vielleicht freundschafgesteuert.
Leider schüttelte es den Kopf. Seine riesigen Augen füllten sich mit blauen glitzernden Tränen und es hielt mir wieder seine Hand hin. Ein anderes Bild blitzte vor meinen Augen auf, Blue, wie er entsetzt auf seine eigene Hand starrte, die im Begriff war, sich aufzulösen. Um uns herum Freundschafe.
„Freundschaf?“
„Mäh“, machte Freundschaf und trabte zum Schreibtisch hinüber, auf dem ich die Feder gefunden hatte.
„Das alte Ding?“
„Mäh“, machte Freundschaf.
Meine Freunde schauten der seltsamen Unterhaltung, die ich mit blau-glitzernden Wesen und Schafen führte mit offenen Mündern zu. Ich hockte mich hin, um ihm ins Gesicht schauen zu können.
„Ich weiß nicht genau was du willst das ich tue“, gab ich zu.
„Mäh“, machte Freundschaf.
„Aber die Situation wird nicht besser werden, oder?“
„Mäh“, machte Freundschaf.
„…soll ich einfach etwas versuchen?“
Freundschaf stupste mich mit seiner Schnauze an. „Mäh.“
„Ich nehme das mal als ein Ja.“
„Mia, was genau ist hier los?“ Oma hörte sich etwas verzweifelt an. „Du sprichst mit einem Schaf. Und was ist das?“ Sie deutete auf das kleine Wesen auf dem Hocker.
Mittlerweile war fast eine ganze Hand verschwunden und es sah mich immer noch mit großen Augen an. Es schien nicht einmal ängstlich zu sein, sondern schaute mich einfach an. Und schaute. Und schaute.
Na dann.
„Bitte hilf mir die Geschichten zurückzubringen“, bat ich das kleine Wesen.
„Mäh“, machte Freundschaf.
„Mit Hilfe von dem… Schreibtisch da. Kannst du helfen?“
Das kleine Wesen begann von einem Ohr zum andere zu Grinsen. Mit einem Schlag verschwand der ganze Arm, der Rest des Körpers wurde durchsichtiger, nur das Grinsen leuchtete noch genau wie vorher.
„Nein! Ich weiß nicht was ich versuchen soll, wenn das hier eine falsche Spur ist!“
Doch das Wesen verblasste immer mehr. Ein paar Sekunden mehr, und das Wesen war komplett verschwunden. Es blieb nur das Kissen auf dem Hocker und ich, wie ich neben einem Schaf kniete.
„Und das hat jetzt was genau gebracht?“, fragte Blue.
Ich wusste es nicht genau. Mein Kopf fühlte sich immer noch seltsam an. Meine Erinnerungen waren nicht wieder da. Wenn es Geschichten waren, die diese Leere in meinem Kopf und in den Büchern hinterlassen hatten, dann hatte ich es nicht geschafft sie zurückzubringen.

3 Kommentare:

  1. „Natürlich gab es Geschichten. Aber wenn niemand sie braucht, werden sie vergessen.“ Meine Oma sah mich mitleidig an. „So läuft das nunmal.“

    ... ich hab förmlich gefühlt wie in mir was zerbrochen ist...

    AntwortenLöschen