Samstag, 2. Dezember 2017

47. Kapitel



Wir kletterten dieses Mal die Letter hinauf, um in den Schreibraum zu gelangen.
„Meine Erfindung! Eine Letter aus Buchstaben!“, meinte Himmelrich fröhlich.
Ich hatte nicht den Mut ihm zu sagen, dass sie vermutlich bald verschwinden würde. Die Sprache verschlug mir der Raum allerdings immer noch. Hatte er letztes Mal auch schon so viele Bücherregale gehabt?
„Die Bücherregale verstehen jeden Fleck Wand", sagte er. „Sie sind sehr schlau und wissen genau wo ihr Platz ist.“
„Mäh“, machte Freundschaf von unten und sah kläglich hinter uns die Leiter hinauf.
„Oh nein! Freundschaf muss einfach mit hier sein.“ Ich dachte sowohl an seinen traurigen Blick, ganz allein dort unten, als auch an seine Fähigkeit die Erinnerung an Geschichten am Leben zu halten.
„Kleinen Moment. Ich wollte euch sowieso nur die Letter zeigen.“
Himmelrich drehte sich um und ging aus einer Tür auf der rechten Seite. Es dauerte einige Minuten, in denen wir nur aus unbestimmten Richtungen Schritte hörten. Teilweise schienen sie einmal im Kreis um den Raum herumzugehen – was seltsam war, da an der einen Wand des Raumes Fenster nach draußen abgingen.
„Äh…“, begann Blue.
„Mäh“, machte Freundschaf im gleichen Moment, als wir von unten Himmelrichs Stimme hörten „Da bist du ja!“
Ein Blick die Letter hinunter zeigte uns, dass beide nebeneinanderstanden und Himmelrich uns zuwinkte. „Kleinen Moment noch. Wir sind gleich da.“
Er winkte Freundschaf, ihm zu folgen, was es mit einem weiteren „Mäh“ tat. Es folgten Schritte. Hufe. Schritte, einmal Fluchen, als etwas polterte als hätte sich jemand den Kopf gestoßen.
„Das ist irgendwie… seltsam.“ Blue drehte sich um sich selbst und betrachtete eine Wand nach der anderen. „Wo zum Teufel läuft der lang?“ Er kratzte sich am Kopf, dass seine blauen Haare wirr abstanden.
„Mäh“, machte es dumpf hinter einer Wand.
„Kleinen Moment.“ Himmelrich fluchte erneut. „Aha!“
Es machte klick, dann wirkte die Wand auf einmal abwesend, denn sie war verschwunden. Komplett. Keine Bücherregale, keine Tapete, kein nichts. Da war nur ein Blick auf einen recht leeren, enorm engen Flur mit zertretenen Holzdielen und Freundschaf sowie Himmelrich, der sich den Kopf rieb.
„Hat ja lange genug gedauert“, grummelte er. „Komm rein.“
Freundschaf folgte ihm in den Raum, Himmelrich winkte der Wand und sie war plötzlich wieder da.
„Woah.“
Da konnte ich Blue nur zustimmen.
„Ihr wolltet Tee und Kekse?“ Mathildas leicht unfreundliche Stimme drang von einer anderen Seite des Raumes an unsere Ohren.
Eine Tür zwischen zwei Regalen, die mir vorher gar nicht aufgefallen war, ging auf und das Hinterteil von Mathilda marschierte in den Raum. Vorne balancierte sie ein Tablett, das geradezu überladen mit Gebäck war. Mehrere Tassen waren so prekär übereinandergestapelt, dass ich sofort zu ihr eilte, um zu retten, was zu retten war.
„Danke“, meinte sie, als ich die Tassen vom Tablett nahm. „Stell sie am besten dort hinten hin.“
„Wohin?“ Ich schaute mich um, nicht ganz gewillt Teetassen auf den Schribtsichs abzustellen.
„Offentischlich dort drüben!“, ereiferte sie sich. „Kind, wo hast du deine Augen?“
Mathilda schüttelte den Kopf und Himmelrich deutete dezent auf einen Tisch, der… offentischlich?... direkt in der Mitte des Raumes aufgetaucht war.
„Woah“, wiederholte Blue.
„Die Magie ist hier immer noch stark“, sagte Phoenix bewundernd. „Das hier wird vermutlich der letzte Ort sein, an dem noch Geschichten verschwinden. Wir sollten es also auf jeden Fall mitbekommen, wenn der Große Rote Knopf des Verderbens sich ausgetobt hat.“
Das war nur gut, wenn wir uns auch wirklich daran erinnerten was wir hier taten, was wir getan hatten, dass wir den Auftrag bekommen hatten etwas zu tun… Au, mein Kopf.
„Himmelrich! Nur, weil wir hier dem Untergang der Bücherwelt entgegensehen, heißt das noch lange nicht, dass du ums Aufräumen herumkommst!“ Sie deutete in den hinteren Teil des Raumes.
Unterlagen und Zettel waren quer und kreuz über den Boden verteilt, teilweise eingerissen, teilweise… angeknabbert?
„Das waren die verfluchten Magieratten!“, schimpfte Himmelrich. „Die knabbern immer die Dokumente und Geschichten an!“
„Alles nur Ausreden“, brummte Mathilda, während sie das Tablet auf dem Tisch abstellte.
„Was sind Magieratten?“, flüsterte Blue mir zu.
„Was fragst du mich? Du bist schon länger dabei als ich…“, flüsterte ich zurück.
„Das sind fiese Biester“, erklärte Hannes von meiner Schulter aus. „Die fressen alles an, was nicht niet- und nagelfest ist. Und ich meine wirklich alles. Einmal hat der Koch in unserem Schloss die Besteckschublade aufgemacht und alle Löffeln waren angefressen…“
Auf einmal betrachtete ich die dunklen Ecken des Bodens mit neuem Interesse. Hoffentlich sah ich keinen Rattenschwanz in irgendeinem Loch verschwinden…
Himmelrich schnappte sich einige der Zettel und schob sie unbesehen in einem Stapel zusammen. Mathilda runzelte zwar die Stirn, sagte aber nichts weiter, außer, dass sie die Lippen zusammenkniff und ein paar Kekse auf dem Tablett anders arrangierte.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte sie.
Zuerst klang ihre Stimme normal. Leicht sarkastisch, herrisch und nicht unbedingt freundlich. Allerdings schwang ein leichtes Zittern darin mit und sie griff wie automatisch nach einem Buch, das auf dem Tisch las. Geistesabwesend blätterte sie darin herum. Über ihre Schulter konnte ich die leeren Seiten sehen. Egal was für eine Einstellung sie an den Tag legte, sie musste Bücher und Geschichten lieben um überhaupt erst in diese Bibliothek gezogen zu sein.
„Wir warten.“ Meine Oma ließ sich in einen der Stühle sinken und nahm sich eine Tasse. „Habt ihr Englisch Breakfast Tea?“
Ich schaute mir lieber den Rest des Raumes nochmal an. Nur für den Fall, dass sich irgendwo Magieratten versteckten. Außerdem fand ich es leicht verstörend, dass die weder die Stifte noch die Federn am Schreiben waren. Selbst das Tintenfass, das vorher halb voll und halb leer gewesen war, sah vollkommen unberührt aus. Keine Bücher lagen an den Tischenden und selbst als ich mich über den Tisch beugte, schaffte es nur eine Feder sich kurz zu regen als würde sie mir zuwinken. Danach lag sie still und sah einfach aus wie ein ganz normales Schreibgerät.
„Die haben vor ein paar Stunden einfach aufgehört“, erklärte Mathilda, als sie meinen Blick sah. „Eine nach der anderen sind die Federn umgefallen und die Stifte hatten keine Kraft mehr dazu sich selbst anzuspitzen. Und alles, was sie bis dahin geschrieben hatten, ist sofort verschwunden, wenn sie aufgehört haben zu schreiben.“
Das bestätigte dann wohl unsere Theorie. Sollten wir die Wunder jetzt einsetzen, würde das nichts an der Gesamtsituation ändern. 
„Nimm einen Tee, Mathilda.“ Meine Oma bot ihr eine Tasse an.
Zu meiner Verwunderung nickte Martha nur, legte das leere Buch auf den Tisch und begann Tee zu schlürfen. Wenn sogar sie von der ganzen Sache so mitgenommen war, dann wollte ich nicht wissen wie es den restlichen Leuten im NaNo-Land ging.
Ich nahm mir einen Schokoladenkeks vom Tablet und schnappte mir eine der Tassen. Tee und Kekse. Vielleicht, wenn ich mich nur darauf konzentrierte, würde ich nicht den Verstand verlieren.
„Mäh“, machte Freundschaf und stupste meine Handfläche mit seiner Nase an. Sofort schossen einige Geschichtsfetzen durch meinen Kopf, die ich keiner Geschichte mehr zuordnen konnte.
„Pass gut auf deine Erinnerung auf, Freundschaf“, murmelte ich nur. „Du wirst vermutlich das einzige Lebewesen oder Nichtlebewesen sein, das sie noch besitzt.“

1 Kommentar:

  1. Oma trinkt English Breakfest Tea? Sehr sympathisch ^^

    Ich muss sagen, falls du dich wirklich auf das Kapitel bezogen hast, dann fand ich das vorherhige Kapitel trauriger... auch wenn ich zugeben muss, dass die ruhenden Federn einem schon nahe gehen.

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