Freitag, 11. Dezember 2015

39. Kapitel



Schaf fand ich diese Nacht viel. Naja, viele Schafe, aber keinen Schlaf zumindest. Da wir gerade erst Essen bekommen hatten, vermutete ich, dass es eine Weile dauern würde bis wieder jemand auftauchte. Also nutzte ich die Zeit, um das Loch in der Wand zu vergrößern.
Nacheinander kamen alle im Schafzimmer eingesperrten Schafe zu mir herüber und ließen sich von mir die Nase kraulen. Sehr geholfen hatte es, als ich das Lichtschaf gefunden hatte. Beim Kraulen hatte es sofort angefangen zu leuchten, was es etwas einfacher machte den Mörtel wegzukratzen.
Auch Blue hatte weiter an seinem Loch in der Wand gearbeitet, hatte allerdings versucht seine Bemühungen nach unten zu richten, um ein Loch unter der Pritsche zu schaffen. Das würde vermutlich weniger auffällig werden als das Loch direkt gegenüber von der Zellentür, mit dem ich beschäftigt war. Bisher wusste ich noch nicht wie ich das verstecken würde.
Nur mähsam gelang es mir das Loch so weit zu vergrößern, dass ich endlich hindurchkriechen konnte. Mähsam vor allem, weil ich zwischendurch immer wieder die Schafe kraulen mussten, da sie sonst anfingen einen riesigen Lärm zu veranstalten. Vermutlich waren sie einfach froh, dass sie endlich jemanden gefunden hatten, der sie streichelte, aber meine Arbeit machte das nicht gerade leichter. Ganz zu schweigen davon, dass ich immer müder wurde. Zu nachtschafender Zeit wollten sowohl mein Kopf als auch mein Körper nur noch schlafen.
Von diesen ganzen Schafen würde ich Schafstörungen und Schlafstörungen bekommen, wenn das so weiterging.
„Hey, Lichtschaf, komm doch mal her“, flüsterte ich das nun ziemlich große Loch.
„Määähh“, machte Lichtschaf und streckte seinen Kopf durch die Öffnung.
Ich begann seine Nase zu kraulen und es schloss genüsslich die Augen. Gleichzeitig begann sein weißes Fell zu leuchten. Ich schob es ein Stück zurück und begann durch das Loch zu steigen.
„Blue, ich schaue mich mal im Schafzimmer um“, meinte ich in Richtung der anderen Zelle.
„Ich bin auch fast durch“, sagte der. „Ich komme nach.“
Das Kratzen von Stein auf Mörtel unter meiner Pritsche ging weiter und ich wandte mich wieder dem Schafzimmer zu. Die Schafe machten mir Platz und bald fand ich mich in der Mitte einer recht großen Zelle wieder.
„Oh je…“
Es waren noch mehr Schafe als ich gedacht hatte. Wesentlich mehr. Das Zimmer war viel mehr eine Halle und es gab Wolle so weit das Auge reichte. Da ich bisher nur die Nasen gesehen hatte, konnte ich erst jetzt erkennen wie viele verschiedene Schafe es hier gab.
Da war zum Beispiel das Anhängerschaf – oder mehrere, um genau zu sein. Sie folgten einem anderen Schaf, das mit hoch erhobenem Kopf durch den Raum schafwandelte und das ich für das Weltherrschaf hielt.
Neben der Zellentür auf der anderen Seite des riesigen Zimmers stand Alarmbereitschaf. Es hatte eine Sirene auf dem Kopf und war anscheinend bereit Alarm zu schlagen sobald sich jemand der Tür näherte. Das könnte noch praktisch werden.
Ein anderes Schaf durchstreifte ununterbrochen den Raum. Nie blieb es lange in einer Ecke. Es schien von allen am meisten darunter zu leiden hier eingesperrt zu sein. Das musste dann wohl ein Wanderschaf sein. In einer anderen Ecke kauerte ein Landschaf. War das das Gegenstück zum Wasserschaf? Wenn ja, war sein Gegenstück anscheinend nicht hier. Oder es wurde in einem speziellen Aquarium gehalten.
Auch ein Lanschaf fand ich, doch das konnte ich leider nicht mit dem Internet verbinden, egal wie sehr ich versuchte auf den in seinem Fell eingearbeiteten Knöpfen herumzudrücken. Vermutlich hatten die hier einfach kein Netz.
Freundlich aufgenommen wurde ich von mehreren Gastfreundschafen. Sie drängten sich um mich und schoben mir sogar ein wenig Heu hin, das sie vom anderen Ende des Raumes geholt hatten. Das lehnte ich natürlich dankend ab, aber der Gedanke zählte.
Etwas seltsamer – oder noch seltsamer – waren die Gelschafe. Sie hatten die Konsistenz von Wackelpudding und wie sie es schaften in einem Stück zu bleiben war mir ein einziges Rätsel. Sie waberten vor sich hin und hinterließen teilweise seltsame Schleimspuren.
Dann gab es noch das Herzschaf, das ein kleines Herzchen auf dem Hintern hatte, ein Schwangerschaf, das mich mit treuen Augen anblickte, ein Wissenschaf, das sehr intelligent dreinschaute und mit den Hufen irgendwelchen Formeln in den Staub kratzte, ein Winterschaf, unter dessen Hufen sich Frost bildete, sowie ein Mitleidenschaf, das bedrückt an einer Wand hockte. Außerdem gab es Schafschützen, die sich an strategisch wichtigen Positionen im Raum verteilt hatten. Vielleicht könnte man mit denen noch was anfangen?
Ansonsten gab es jede Menge Kollateralschafe. Die meisten von ihnen standen einfach nur in der Gegend herum und kauten auf Heu. Ob sie einfach die Hoffnung verloren hatten, oder ob es sich um fälschlich für Freundschafe gehaltene ganz normale Schafe handelte, konnte ich nicht sagen.
„Hey, Mia. Da bin ich.“
Blue stieg durch das Loch hinter mir. Ich kraulte Lichtschaf, das mir gefolgt war, und erleuchtete somit den Raum um mich herum. Blue stieß einen Laut des Erstaunens aus.
„Kein Wunder, dass wir keine Verwandtschaf von Freundschaf finden konnten. Die sind alle hier!“
Er begann ebenfalls ein Schaf zu kraulen, das ein zufriedenes „Mähhh“ hören ließ. Ein paar andere begannen nun sich auch um ihn zu drängen, in der Hoffnung, dass sie als nächstes Streicheleinheiten bekommen würden. Da hatten wir was angefangen…
„Wir müssen hier raus. Und die müssen wir auch alle befreien“, meinte Blue. „Wenn die auch alle immun gegen den Großen Roten Knopf des Verderbens sind, dann haben wir das Problem des NaNo-Landes auf jeden Fall gelöst.“
Da vergaß er leider etwas. Sowohl – oder sollte ich lieber sagen sowoll? Bei der ganzen Wolle hier wäre das vertretbar – wir als auch die Schafe saßen in diesem verrückten Gefängnis fest.
„Määähh“, machte Lichtschaf und als ich ihm die Nase kraulte, wurde es wieder heller im Raum.
Lichtschafs Licht fiel auf die ganze Herde von Kollateralschafen, Gastfreundschafen, die Schafschützen, das Alarmbereitschaf und das Weltherrschaf und seine Anhängerschafe. Wanderschaf zog immer noch von einer Ecke des Raumes in die nächste, gefolgt von Landschaf, das anscheinend Gefallen daran gefunden hatte.
„Was ist, wenn wir die Schafe helfen lassen?“, fragte ich mich.
„Häh?“
Blue steckte seinen Kopf aus einem Haufen Wolle hervor. Er war von Schafen umzingelt und kam mit dem Streicheln gar nicht mehr hinterher. Es sah aus als würde er im Zentrum eines riesigen Wollmonds sitzen, da die Schafe wie in einem Kreis um ihn herumstanden. Blues Sorgen schienen sich in Wollwollen aufgelöst zu haben.
Ich konnte nur noch an Schaf denken. Naja, Schafe. Ein paar Stündchen Schaf und ich hätte vielleicht einen Plan auf die Beine – oder Hufe – gestellt. Ich brauchte nur eine ein bisschen längere Schafperiod, in der ich Zeit hatte mir die verschiedenen Schafe genauer anzusehen und mir überlegen konnte wie sie zu unserer Flucht beitragen konnten.
„Wir haben hier eine ganze Armee von Schafen, die alle sehr interessante Sachen machen können. Schau dir nur mal Lichtschaf an.“
„Määähh“, machte Lichtschaf und leuchtete ein wenig mehr.
„Oder das Alarmbereitschaf. Oder die Schafschützen. Oder das Winterschaf. Wenn alle ihre Talente richtig einsetzen, müssten wir es alle hier raus schafen.“
„Schaffen meinst du, oder?“, hakte Blue nach.
„Nein, schafen. Mit Hilfe von Schafen.“
„Mmh.“
Er schien noch nicht ganz überzeugt zu sein. Vielleicht war er aber auch von der Gruppe Kollateralschafe abgelenkt, die jetzt ihre Köpfe in seine Handflächen drückten und sich an ihn pressten.
„Mähhhhh!“, machte es neben mir und ich blickte auf das Wissenschaf, das wieder begann mit den Hufen in den Staub zu schreiben.
Immer schneller fuhren seine Füße über den Boden und ich zog Lichtschaf ein wenig näher, um das Geschreibsel besser begutachten zu können. Das sah fast nach dem Anfang eines Plans aus. Zusammen würde uns bestimmt was einfallen. Und Blue konnte sich währenddessen gerne um den Rest der Schafe kümmern. Dann ließen sie mich währenddessen wenigstens in Ruhe.
Jetzt mussten wir nur noch hoffen, dass niemand unsere Zellen kontrollieren würde. Das Loch in der Wand war ziemlich verdächtig, wie ich zugeben musste.
„Mäh-mäh-mäh-mäh-mäh-mäh…“, machte Alarmbereitschaf plötzlich.
Die Sirene auf seinem Rücken hatte begonnen rotes Licht auszuströmen und sich unaufhörlich zu drehen.
„Zurück in unsere Zellen!“, zischte ich Blue nur zu.
Der riss sich endlich von den Schafen los und verschwand durch das Loch in der Wand. Ich konnte nur mit Mühe folgen, denn die Schafe versuchten ihm hinterher zu laufen.
„Nein, ihr dürft noch nicht mit in meine Zelle“, versuchte ich ihnen zu erklären und drückte sie zurück ins Schafzimmer. „Aber wir kommen wieder, versprochen.“
„Määähh“, machte Lichtschaf traurig, zog aber endlich seinen Kopf zurück.
Ich begann so schnell wie möglich die Steine, die ich vorhin aus der Wand entfernt hatte, wieder übereinander zu stapeln, um das Loch zu verstecken. Man konnte allerdings immer noch erkennen, dass der Mörtel dazwischen fehlte, also setzte ich mich kurzerhand direkt vor den Teil der Wand, der besonders verdächtig aussah. Blue hatte es etwas leichter. Er musste nur den einen Stein ersetzen, den er über meine Pritsche entfernt hatte. Das Loch zu seiner Zelle war sowoll von meiner Seite, als auch von seiner Seite von unseren Pritschen verdeckt.
Schlürfende Schritte kamen den Gang entlang. Alle paar Meter schienen sie zu stoppen. Ich hörte wie etwas aufgeschlossen wurde, dann ein Schaben als ein Tablett aus einer Zelle gezogen und danach durch ein anderes ersetzt wurde. Danach wanderten die Schritte weiter und kamen Blues und meinem Zimmer immer näher.
Als ich endlich einen Blick auf unseren Gefängniswächter erhaschte, war ich beinahe enttäuscht. Es war die Frau, die wir schon auf der Straße gesehen hatten. Sie bedachte mich nur mit einem verächtlichen Blick und ging dann zu Blues Zelle weiter. Der versuchte ein Gespräch mit ihr anzufangen, doch dieses Mal schien es nicht zu funktionieren. Dass sie ihm einmal Antworten gegeben hatte, schien ihr zu reichen.
„Was für eine Schreckschraube“, murmelte er durch die Wand sobald sie verschwunden war.
„Hey, komm wieder mit ins Schafzimmer. Wissenschaf und ich haben uns da was ausgedacht“, meinte ich nur.
Er war schon halb durch das Loch in der Wand zu meiner Zelle geklettert, da kehrten die Schritte zurück, begleitet von einer laut protestierenden Stimme.
„Aber ich bin wirklich der Prinz der Fantasy-Gegend! Lassen Sie mich sofort los!“
„Oh nein.“ Ich hatte sofort Hannes‘ Stimme erkannt.
Momentan war ich mir nicht sicher, ob das bedeutete unser nicht einmal umgesetzter Plan war bereits zum Scheitern verurteilt.

„Lassen Sie ihn sofort los!“
Ich hörte mich schreien bevor ich mich dazu entschlossen hatte etwas zu sagen. Die Frau blieb direkt vor meiner Zelle stehen. In der Hand hielt sie einen zappelnden kleinen Frosch.
Die Frau war recht unscheinbar. Mittelgroß, mittelschlank, Haare, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie dunkelblond oder hellbraun sein wollten, nichtssagende Klamotten, ein nichtssagendes Gesicht. Sogar ihre Mimik war eher erstaunt, als wäre ihr nur gerade ein Blatt vom Wind ins Gesicht geweht worden.
„Dann gehört der also auch zu eurer seltsamen Truppe“, mutmaßte sie und schüttelte geistesabwesend Hannes.
„Warum tun Sie das?“ Ich vergaß, dass ich eigentlich die mörtellose Rückwand verdecken wollte und ging bis an die Gitterstäbe vor. „Was haben Sie davon uns hier einzusperren. Lassen Sie uns gehen.“
Die Frau schnaubte. „Ihr verunstaltet das schöne Land und ich soll euch einfach gehen lassen? Das kommt gar nicht in Frage. All diese seltsamen Gestalten… all die verzauberten, sprechenden Viecher…“ Sie schüttelte Hannes erneut; mittlerweile hatte ich Angst sie hatte ihn schon zu Tode geschüttelt. „Diese… Overachiever, die sich nicht einmal die Zeit nehmen eine vernünftige Geschichte zu schreiben, sondern das Schreiben zu etwas verkommen lassen, bei dem es nie um Qualität geht…“
War das nicht gerade der Sinn des NaNo? Sich nur einen Monat die Freiheit zu nehmen nicht auf jeden Fehler, auf jeden etwas seltsam gestalteten Satz zu achten, sondern einfach zu schreiben, was einem auf der Seele lag? Ich hatte zwar erst einmal mitgemacht, aber so viel hatte sogar ich davon verstanden.
„Was machen Sie im NaNo-Land, wenn Sie so denken?“
„NaNo-Land? Schätzchen, das existiert hier nicht wirklich. Hier ist das Loch, in das alles fällt, was vergessen wird oder vergessen werden soll. Plotbunnys, die niemals fertig geschrieben wurden und halb durchsichtig vor sich hin vegetieren. Charaktere, die einmal aufgetaucht und dann nie wieder eingebaut wurden. Hier landet alles, was seine Kreativität eingebüßt hat.“
So etwas Ähnliches hatte Blue erwähnt. Das hier war dann wohl so etwas wie ein einziges, riesiges Motivationsloch. Ob Steph gerade in einem steckte? Ob wir deshalb hier gelandet waren?
„Aber warum bringen Sie dann Leute hierher, die nicht vergessen wurden?“
„Damit ihr vergessen werdet, natürlich“, erklärte sie als sei es das vernünftigste Argument der Welt. „Und jetzt entschuldige mich. Ich muss einen Frosch entsorgen.“
„Nein!“
Doch die Schritte entfernten sich bereits und nur das Echo der Sohlen auf dem Steinboden blieb uns eine Weile erhalten.
Ein scharrendes Geräusch, dann erklang Blues Stimme aus dem Loch über meiner Pritsche, das wieder geöffnet war. „Wie hat sie Hannes bloß fangen können? Nachdem wir entführt wurden, müssten die anderen doch vorsichtiger gewesen sein…“
„Sie hat entsorgen gesagt!“ Meine Stimme klang so erstickt, dass ich tief Luft holte bevor ich daran dachte weiterzusprechen. „Sie hat…“
„Schhh… ganz ruhig. Sie wird ihn nicht umbringen.“
„Ach nein? Was macht dich so sicher?“ Ich ließ mich auf meinem Bett nieder, sodass das Loch auf Augenhöhe war und ich Blues blaue Augen sehen konnte.
„Sie hat uns am Leben gelassen. Sie hat die Freundschafe am Leben gelassen. Warum sollte das ausgerechnet bei Hannes anders laufen? Überleg mal.“ Er lächelte mich durch das Loch beruhigend an.
Ich sagte nichts und hoffte nur, dass Blue Recht behalten würde. Etwas dagegen tun konnte ich gerade sowieso nicht. Also rollte ich mich auf dem dürftigen Bett zusammen und versuchte die Kälte des Steins aus meinen Knochen zu vertreiben. Wie hatten es die Freundschafe nur so lange hier ausgehalten?

1 Kommentar:

  1. Ach herrlich... Schafe überall, was für ein wolliges Gefühl.

    „Aber ich bin wirklich der Print der Fantasy-Gegend! Lassen Sie mich sofort los!“ ... Ich bin mir nicht sicher ob der Fehler gewollt war.

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