Sonntag, 6. Dezember 2015

36. Kapitel



Die Nebelschaden verzogen sich sobald wir die Brücke hinter uns gelassen hatten, was uns ohne Probleme gelang. Keine fallenden Balken, keine einstürzenden Konstruktionen… Fast hatte ich damit gerechnet, war aber mehr als froh, dass ich falsch gelegen hatte.
Womit ich auch falsch gelegen hatte war der Anblick, der uns erwartete als wir die Brücke verließen. Wir fanden uns mitten in einem Stadtpark wieder. Umgeben waren wir von Bäumen, aber weiter hinten konnte man Gebäude sehen und das Rauschen von Autos auf einer stark befahrenen Straße war zu hören.
„Das ist nicht was ich erwartet hatte…“, meinte Blue.
Als wir uns umdrehten, um zu sehen woher wir gekommen waren, hatte sich die hölzerne Brücke in eine Brücke aus Stein verwandelt und führte auf die andere Seite eines schmalen, mit wenig Wasser gefüllten Grabens.
„Das hatte ich auch nicht unbedingt erwartet. Wie zum Teufel sollen wir jetzt zurückkommen?“
„Lasst uns darüber später nachdenken“, schlug Phoenix vor. „Erstmal sollten wir die Stadt erkunden.“
Sie hatte vielleicht Recht, aber ein flaues Gefühl blieb trotzdem in meinem Magen zurück. Was, wenn wir nicht zurückkamen? Was, wenn wir jetzt zurückgingen und sich die Grenze dann schloss und wir nicht zurück nach Österreich kamen? Wenn  wir denn überhaupt in Österreich waren. Nicht einmal das wussten wir momentan mit Sicherheit.
Wir folgten einfach dem Geräusch von Autos, was uns bald an eine Straße führte. Ampeln gab es schonmal, was auf eine Welt schließen ließ, die zumindest an der Realität angelehnt war. Ein paar Fußgänger waren unterwegs, einige genauso seltsam gekleidet wie die Leute in Schreibstadt. Einen davon hielten wir an.
„Entschuldigung“, begann meine Oma. „Können Sie uns sagen in welcher Stadt wir gerade sind?“
Der Mann sah uns recht entgeistert an. „In Vieann, natürlich.“
„Ist das in Österreich?“, hakte Blue nach.
Dem Passanten schienen fast die Augen aus dem Kopf zu fallen und es schien ihm die Sprache verschlagen zu haben, denn er nickte nur. Dass Blue „Yes! Na endlich!“ schrie, half nicht gerade ihm Vertrauen einzuflößen. Er entschuldigte sich hastig und rannte förmlich vor uns davon.
„Immerhin wissen wir jetzt, dass wir hier richtig sind“, seufzte Phoenix.
„Und was jetzt?“, maulte Blue.
Bei seiner Laune vermutete ich fast, dass der Liebestrank langsam seine Wirkung verlor. Das hatte länger angehalten als ich gedacht hatte – und ich war froh, dass es bald vorbei sein würde. So nett es auch war mal Komplimente anstatt Beleidigungen von ihm zu bekommen, vermisste ich den richtigen Blue. Miesepetrig, vorschnell und immer bereit einen Kampf anzufangen. Nur die Angewohnheit alles zu essen und zu trinken, was ihm vor die Nase kam, sollte er sich besser abgewöhnen.
„Jetzt suchen wir die MLs dieser Region und bitten um Hilfe“, erklärte Phoenix.
„Super, und wie finden wir die? Diese Stadt scheint recht groß zu sein…“ Blue sah einem Auto nach, das an ihm vorbei raste.
„Ich bin selbst ML einer Region, falls ihr euch daran erinnert. Selbst wenn ich jetzt ein Zombie bin. Also hatte ich schon mit den MLs von ein paar anderen Regionen zu tun. Bisher allerdings nur über das Internet.“
„Also, wie genau läuft das hier?“, fragte ich.
„Die Region ist in Bibliotheken aufgeteilt“, begann Phoenix.
„Warum wundert mich das nicht?“, murrte Blue.
Phoenix ignorierte ihn. „Die Hauptbibliothek ist in Vieann. Naja, in der Realität wäre das Wien, auch wenn es hier anders heißt. Alle örtlichen Treffen sind als Bibliotheken angelegt – und im NaNo-Land befinden sich die MLs natürlich in Vieann, um alles zu überwachen.“
„Natürlich.“
Halleluja, Blue hatte seinen Sarkasmus wiedergefunden.
Zwar kannte sich hier niemand von uns aus, aber die Leute, die wir auf der Straße trafen, waren alle freundlich genug uns in die richtige Richtung zu weisen. Solange wir nicht fragten in welcher NaNo-Region und welcher Stadt wir waren, bekamen wir auch keine entgeisterten Blicke mehr ab.
Vieann hatte, wir jede Stadt, in der wir bisher gewesen waren, seine Eigenheiten. Meine Lieblingssehenswürdigkeit war die Charakterdesign-Fabrik, die wir auf dem Weg zur Hauptbibliothek passierten. Anscheinend hatte die jemand von hier aufgebaut und zeichnete die Charaktere von anderen Wrimos – die sich hier übrigens NaNÖs nannten. Ob das bedeutete, dass die Charaktere hier zu echten Menschen wurden, wusste ich nicht, aber es würde so einiges erklären.
Eine andere Sache, die uns nach einer Weile auffiel, war dass sich die Krabben hier eindeutig breit gemacht hatten. Ich wusste nicht genau, ob ich darauf hoffen sollte, dass sich die Krabbeninvasion bis nach Deutschland ausbreiten würde, oder ob sie lieber in Österreich bleiben sollten, denn hier schienen die Krabben auch ohne Wasser auszukommen. Stattdessen tauchten sie jedes Mal auf, wenn jemand ein Gefühl ausdrücken wollte.
Ein weinendes Kind hatte eine njojn Krabbe auf der Schulter sitzen. Ein Junge, der einem Mädchen zuzwinkerte hatte eine Krabbe auf der Schulter sitzen, die so aussah: nîuin. Als das Mädchen tatsächlich rot wurde und anfing zu kichern verwandelte sich das Tier auf seiner Schulter in eine YiviY, was wohl eine Hurra-Krabbe war und die auf der Schulter des Mädchens in eine glückliche nivin.
Anscheinend schien es der neuste Trend zu sein eine Krabbe auf seiner Schulter sitzen zu haben, die alle Emotionen zeigte, die man fühlte. Ich würde mich fühlen, als ob ich auf einem Präsentierteller sitzen würde, aber jedem das Seine. Blue schien fasziniert von den Krabben zu sein und versuchte eine anzufassen. Sie wurde zuerst zu einer entrüsteten fioif und dann zu einer nòwón, die ihn prompt in den Finger kniff.
Der Mann, dem die Krabbe gehörte, ließ sich nur zu einem „geschieht dir recht“ hinreißen, bevor er weiterging.
Blue starrte ihm wütend hinterher. Eine Krabbe, die plötzlich auf seiner Schulter aufgetaucht war, wurde zu einer unglücklichen ni_in. Sobald er mich ansah, wurde sie zu einer ni3in, was mich denken ließ, dass der Trank seine Wirkung vielleicht noch nicht ganz verloren hatte.
„Wo hast du die Krabbe her, Blue?“, fragte ich.
„Wah!“ Er versuchte das Tier mit einer Hand von seiner Schulter zu vertreiben, doch es klammerte sich an seine Robbe, die ein entrüstetes „oi, oi, oi!“ hören ließ. „Lass mich los, du Ding!“
Anscheinend wollte noch jemand anderes nicht, dass seine Gefühle öffentlich zur Schau gestellt wurden. Vielleicht hielt ihn das ja von weiteren Mitternachtsständchen ab.
„Kann irgendjemand dieses Ding entfernen?“
Er sah mich verzweifelt an und ich hob abwehrend die Hände. „Hey. Das ist dein Krabbenproblem. Außerdem finde ich die irgendwie niedlich.“
Ich kraulte die Krabbe auf dem Kopf und sie begann zu grinsen. nivin. Leider schien sich das nicht auf Blue auszuwirken, der immer noch miesepetrig aussah. Noch schlimmer wurde es als wir an einem Stadion vorbeikamen, aus dem einige tausend Zusachauer strömten.
„Ich habe Hunger. Da hilft es nicht gerade, wenn sich Menschen als Sachertorten verkleiden“, grummelte er und die Krabbe auf seiner Schulter wurde zu einer ni_in.
Die getörteten Leute verschwanden glücklicherweise bald in eine U-Bahn-Station. Zumindest musste Blue sie nicht mehr sehen. Da sein Magen mittlerweile so laut knurrte, dass sogar ich ihn hören konnte, war das Problem allerdings nur aufgeschoben und nicht behoben.
„Hier sind wir.“ Phoenix blieb vor einem riesigen Gebäude stehen, das vor uns aufragte.
Blue stöhnte erneut. „Müssen wir echt die ganzen Treppen da hoch? Ich will nicht.“ ni_in
„Wenn ich nicht auf Mias Schulter sitzen würde, würde ich ihm Recht geben…“, meinte Hannes nur.
Und wie sollte mir das weiterhelfen? Ich konnte Blue schlecht Huckepack nehmen. Da war Hannes‘ Größte wesentlich praktischer. Also nahm ich mir den Ärmel seines Pullovers und begann ihn hinter mir die Stufen hinaufzuziehen. Er grummelte wieder irgendetwas, begann aber mir zu folgen. Meine Oma benutzte kurzerhand ihren Regenschirm als Gehhilfe und Phoenix hatte uns alle bald überholt. Freundschaf brauchte am längsten, schien sich aber von den Stufen nicht einschüchtern zu lassen.
Einige der Leute, die ebenfalls auf dem Weg in die Bibliothek waren, oder aber gerade herauskamen, sahen dem Schaf ein wenig verwirrt nach, doch Freundschaf ignorierte sie. Ich tat es ihm gleich.
„Bist du sicher, dass die MLs uns helfen werden?“, fragte Blue Phoenix.
„Wir haben immer noch den Zettel von Mr. Ian Woon“, antwortete die. „Er ist der König des ganzen NaNo-Landes. Also sollte uns das auch hier weiterhelfen.“
„Mmh…“, machte unser Miesepeter nur.
Das war wohl wirklich der Liebestrank, der seine Wirkung verlor. Schluss mit rosaroter Brille. Schluss mit Singen unter meinem Fenster. Und vielleicht würde ich sogar Glück haben und er war zu sehr von der Krabbe auf seiner Schulter abgelenkt, als dass er versuchen würde mir die Schuld in die Schuhe zu schieben. Man konnte hoffen.
„Hier sind wir“, wiederholte Phoenix, als wir vor den großen Toren der Bibliothek angekommen waren.
„Hoffen wir mal, dass das funktioniert“, murmelte Blue nur.

5 Kommentare:

  1. Och schade... Blue auf Liebestrank war so unterhaltsam.

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    1. Dafür hat er jetzt eine Krabbe. Die übrigens nicht geplant war. Allerdings sieht es so aus als würde es schwer werden die wieder loszuwerden...

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    2. Wie das eben immer so ist mit nicht geplanten Dingen... man wird sie selten wieder los, wenn ich da an meine Diebin aus Schattenmagier denke <.<

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  2. Ich mag Blues Krabbe. Und ich finds super, dass du den "Ich zeichne eure Charaktere"-Thread eingebaut hast fivif.

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    1. Ich habe mich vor der Planung der Region im NaNo-Land ein wenig in eurem Forum umgesehen. ;)

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