Dienstag, 8. Dezember 2015

38. Kapitel



Der Gang schien endlos. Ab und zu waren an den Wänden Lampen angebracht, kleine Männchen auf grünen Schildern, die Türen entgegen liefen, wie Notausgangszeichen. Wozu war das Ding hier normalerweise gut? Bestimmt nicht nur, um einem Pub Brawl zu entkommen.
Zum Glück hörte auch dieser Tunnel irgendwann auf und spuckte uns zurück ans Tageslicht. Reichlich verwirrt verließen wir den Untergrund über eine einsame Telefonzelle neben einer stark befahrenen Straße. Eine sehr enge Wendeltreppe hatte immer weiter nach oben geführt, bis wir schließlich etwas aufgeklappt hatten, das wir für eine Luke gehalten hatten, was sich aber als der Boden einer Telefonzelle herausgestellt hatte.
Zum Glück hatte heutzutage fast jeder ein Handy (oder eine Gedankenspinne) und wir hatten niemanden bei seinem Telefongespräch überrascht. Das wäre unschön geworden.
„Na super. Und wo sind wir jetzt?“, grummelte Blue. ni_in
Die Krabbe auf seiner Schulter meldete sich auch wieder. Beim Kampf war sie anscheinend zu ängstlich gewesen, um Grimassen zu ziehen und hatte sich nur an seine Robbe geklammert.
Wir teilten uns auf, um Anhaltspunkte zu finden und Leute zu befragen. Oma ging in die eine Richtung, Phoenix zusammen mit Freundschaf, das Hannes auf dem Rücken trug in eine andere und Blue und ich gingen in die andere.
„Entschuldigung…“, versuchte ich es beim ersten Passanten, doch die Frau lächelte mir nur entschuldigend zu und hastete weiter. Vermutlich hatte sie es eilig.
Blue lehnte, statt zu helfen, mit verschränkten Armen an der Telefonzelle, durch die wir eben nach draußen gekommen waren. Missmutig zupfte er an seiner Krabbe herum, die sich jedoch nicht von seiner Robbe losmachen ließ. Es sah so aus als würde er eine Weile mit ihr auskommen müssen.
„Hilf gefälligst mit“, fauchte ich ihn an.
„Mir geht’s gerade ziemlich dreckig. Wegen dieses bescheuerten Liebestrankes.“
„Den du unbedingt trinken musstest – weil du ja alles isst und trinkst, was dir vor die Nase kommt. Daran solltest du vielleicht arbeiten“, meinte ich nur.
„Nein, nur weil du unbedingt versuchen wolltest Hannes zurück in einen Menschen zu verwandeln. Und deshalb habe ich mich die letzten Tage über aufgeführt wie ein liebeskranker Volltrottel. So eine beknackte Idee…“
Ganz offensichtlich hatte der Trank aufgehört zu wirken. Momentan war mir der verliebte Blue fast lieber als der Griesgram, der jetzt vor mir stand. Obwohl er oft sehr negativ sein konnte, war das hier ein neues Tief. Und auch wenn das Teil der Wirkung des Trankes war, konnte ich das einfach nicht auf sich beruhen lassen.
„Hey, wenn du in einen Frosch verwandelt wärst, würde ich auch versuchen dich zurückzuküssen!“
Er hob nur eine Augenbraue und ich verdaute was ich gerade gesagt hatte. Ups. Da bestand definitiv die Möglichkeit, dass das falsch ankam.
„Weil ich versuche meinen Freunden zu helfen“, fuhr ich deshalb fort. „Das machen Freunde so.“
„Freunde küssen ihre Freunde?“ Immerhin sah er jetzt eher amüsiert als genervt aus.
„Wenn sie in Frösche verwandelt wurden, warum nicht? Vielleicht funktioniert’s ja.“ Unweigerlich musste ich auch grinsen. „Hey, das kannst du doch in deine nächste NaNo-Geschichte einbauen!“, meinte ich nur.
„Eigentlich hatte ich schon etwas anderes im Kopft…“
„Ach was. Du schreibst doch sowieso immer hunderttausende Wörter mehr als du eigentlich müsstest. Und mehrere Geschichten noch dazu. Eine mehr oder weniger macht da doch keinen großen Unterschied“, neckte ich.
„Versorg mich bloß nicht mit noch einem Plotbunny. Die Viecher belagern mich eh schon zu hunderten!“
Der alte Blue war wieder da. Endlich. Weder komplett miesepetrig, noch bis über beide Ohren in mich verliebt. Immer noch nervig, aber daran war ich ja mittlerweile gewöhnt. Vielleicht hatte er aus dem Vorfall sogar eine Lektion gelernt – nämlich nicht mehr alles zu essen, egal wo er es fand. Oder auch nicht. Wir sprachen immerhin von Blue.
„Na los, fragen wir weiter Passanten, um herauszufinden wo genau wir sind“, meinte ich und wandte mich einer Frau zu, die neben der Telefonzelle stehen geblieben war.
„Entschuldigung, aber können Sie uns vielleicht sagen wo genau wir hier sind? Wir haben uns verlaufen…“, sagte ich.
„Ist der da ein Overachiever?“, fragte sie plötzlich.
„Äh…“ Da hatte wohl jemand unsere Unterhaltung belauscht. „Ja… wieso?“
Ich hörte nur noch das Geräusch von Blues Schwert als er es zog, den Aufschrei meiner Oma aus weiter Ferne und dann wurde die Welt um mich herum schwarz.

Mein Kopf dröhnte, in meinen Ohren war ein Rauschen, das sich ein wenig anhörte wie eine Blaskapelle, deren Unstrumente von einer Herde Elefanten überrant worden waren – und so eben zu Unstrumenten, unstimmigen Instrumenten, geworden waren – und irgendetwas zupfte ununterbrochen an meinem Arm.
„Mia, psscht.“
War das Blues Stimme? Als ich versuchte weiter darüber nachzudenken, begann mein Kopf wieder zu schmerzen. Das schien von einer Beule an der Seite meines Schädels auszugehen.
„Mia, wach auf.“ Das Zupfen an meinem Arm wurde stärker.
Es hörte erst auf als ich stöhnte, meine Augen öffnete und versuchte mich aufzusetzen – nur um sofort wieder zurückzusinken, weil die Welt auf einmal anfing zu pulsieren. Irgendjemand hatte einen guten Job dabei getan mich bewusstlos zu schlagen. Aber Blue war auch da gewesen. Und Phoenix und Oma waren nur einen Steinwurf entfernt gewesen. Vermutlich lag ich nur auf der Straße und die seltsame Frau war längst über alle Berge.
Allerdings schien mein Gehirn langsam mit dem Rest meines Körpers aufzuschließen, denn ich erinnerte mich daran was ich in der Sekunde gesehen hatte, in der ich die Augen geöffnet hatte. Der Schock reichte, um mich doch noch in die Senkrechte zu befördern.
Oh Shit.
Das erste, was ich sah, war die vergitterte Tür vor mir. Ein Stuhl stand in einer Ecke des Zimmer, direkt unter dem vergitterten Fenster. Ich selbst lag auf einer steinharten Pritsche. Das, was mich am Ärmel gezupft hatte, war Blues Hand, die er offensichtlich durch eine Lücke im Mauerwerk gestreckt hatte.
„Blue?“
„Hier. Die Steine waren ein wenig lose und ich konnte einen lockern und rausnehmen. Aber leider funktioniert das nur zu deiner Zelle. Die Wände nach draußen sind undurchdringbar.“
„Häh? Zelle?“
Jap, ich befand mich eindeutig in einer Zelle. Aber warum? Und, noch wichtiger, wie zum Teufel kamen wir hier wieder raus?
„Ja. Diese Frau hat sie nicht mehr alle“, bestätigte Blue meine Vermutung.
„Warum genau sind wir hier? Und wo ist hier?“
„Ihre Gründe sind offensichtlich weil ich ein Overachiever bin und du einen Frosch geküsst hast. Sie versucht das NaNo-Land von seltsamen Vorkommnissen zu befreien und wir gehören offensichtlich dazu. Jedenfalls hat sie mir einen ellenlangen Vortrag darüber gehalten, als sie uns Essen vorbeigebracht hat“, meinte er.
Tatsächlich sah ich jetzt direkt vor der Tür ein Tablett mit Essen stehen. Ein Sandwich und eine Flasche Wasser. Das war wohl besser als nichts.
„Wie lange will sie uns hier drin behalten?“
Ich begann mich über das Sandwich herzumachen. Man, hatte ich einen Hunger. Und Durst auch. Vielleicht fragte ich lieber nicht wie lange genau ich ohnmächtig gewesen war. Allerdings war ich nicht hungrig genug, um die Sandwitches nicht zu vermissen, die wir bei Roberot bekommen hatten. Das waren bessere Tage gewesen.
„Ich weiß es nicht. Aber meine Vermutung ist: lange“, meinte Blue.
Das hatte ich befürchtet. Hoffentlich würden Oma, Phoenix und Hannes alle Hebel in Bewegung setzen, um uns hier rauszubekommen.
„Was ist das nur für ein Ort?“, wunderte ich mich wieder. Die Argumente der Frau konnte ich nämlich nicht ganz nachvollziehen.
„Sie hat ein paar Kommentare fallen gelassen, die mich auf eine Idee gebracht haben. Das hier ist der Sammelpunkt aller Zweifel. Alle Zweifel, die Wrimos selbst haben, wenn sie schreiben. Alle Zweifel, die ihr Umfeld hat, wenn sie sich im November komplett abkapseln. Und das alles konzentriert sich hier und wird zu einem Gefängnis, das alles Seltsame abschaffen will. Wenn du genauer darüber nachdenkst, würden die meisten Leute den NaNo an sich für seltsam halten.“
Die Theorie hörte sich ein wenig an, als wäre sie an den Fingern herbeigezogen. Allerdings hatte sie einen wahren Kern. Jetzt, wo mein Kopf mir nicht mehr dazwischenfunkte und auch mein Bauch ruhig gestellt war, bemerkte ich erst die Atmosphäre des Ortes. Es war absolut tödlich für jede Art von Kreativität. Dieses ganze Gefängnis kam mir wie ein einziges Motivationsloch vor.
„Wir müssen hier raus“, entschied ich.
„Leichter gesagt als getan. Diese Zelle ist eine der am strengsten bewachtetsten Zellen“, sagte Blue.
„Bewachtetsten…?“
„Immer wenn unsere Autorin übertreiben will, fängt sie an, nicht nur Adjektive, sondern auch Verben zu steigern, denn so machtesten es die besten Autoren nun mal“, meinte Blue. „Das macht Steph schon die ganze Zeit. Als würde sie sich über uns lustig machen.“
Steph! Hol uns sofort hier raus!“, beschwerte ich mich.
„Das bringt nichts.“ Blue hatte seine Hand zurückgezogen und ich legte mich nun wieder auf die Pritsche. Das Loch in der Wand war etwa in Kopfhöhe und ein Paar blauer Augen blinzelte mir entgegen. „Das habe ich auch schon versucht.“
Wahrscheinlich war sie nicht gut auf uns zu sprechen. Wenn sie uns in ein Motivationsloch gesteckt hatte, steckte sie vielleicht selbst in einem und wollte sich so an uns rächen. Wenn man es von der Seite betrachtete, war es recht clever – auch wenn es immer noch sehr nervig für uns war. Und antworten könnte sie auch mal, wenn man sie darum bat.
„Steph!“, versuchte ich es wieder.
„Das bringt doch nichts, Mia“, seufzte Blue. „Wir müssen uns selbst helfen. Versuch mal, ob bei dir auch ein paar Steine locker sind.“
Ich nickte ihm zu und wandte dem Loch in der Wand den Rücken zu. Dann begann ich systematisch den Rest meiner Zelle abzusuchen. An einigen Stellen war der Mörtel zwar lose, doch an der Wand, die zwischen Zelle und Gang war, konnte ich keine Schwachstelle entdecken. Dafür bemerkte ich eine Schwachstelle an der gegenüberliegenden Seite.
Mit einem Stück Stein begann ich den Mörtel wegzukratzen. Wie hatte Blue das jemals geschafft? Das dauerte ewig! Was mich wieder überlegen ließ wie lange ich k.o. gewesen war. Zum Glück lenkte Blue mich ab, indem er mich mit allem möglichen Zeug vollquatschte. Er erzählte von seinem Studium, von dem er bisher nicht so viel berichtet hatte, von den Geschichten, die er im November geschrieben hatte, von denen ich während unzähliger Schreibtreffen schon einige Details kannte und von seiner Familie.
„Aha!“, unterbrach ich ihn schließlich.
„Bist du durch?“, fragte Blue und sein Auge erschiend wieder in der Lücke der Wand.
„Ich glaube schon…“
Meine Fingernägel brachen fast als ich versuchte den Stein zu greifen, doch schließlich schaffte ich es ihn aus der Wand zu entfernen. Ich presste mein Auge gegen die Wand und versuchte zu erkennen, ob ich einen Weg nach draußen gefunden hatte.
Der Raum dahinter war in Dämmerlicht getaucht. Weit oben erkannte ich ein vergittertes Fenster und mein Herz sank. Ich war nur in einer weiteren Zelle gelandet. Hier würden wir nicht rauskommen.
„Määh“, machte es plötzlich und vor Schreck fiel ich hintenüber.
„Freundschaf? Bist das du?“
Oh bitte nicht. Das verdiente es nun wirklich nicht. Dass Blue und ich hier festsaßen reichte völlig.
„Määh“, machte es wieder.
„Mähh.“
„Mmmäh.“
„Määääh.“
Das hörte sich an wie die Stimme von verschiedenen Schafen. Und sie waren alle nicht Freundschaf. Ich presste mein Gesicht wieder gegen die Wand und versuchte mehr zu erkennen. Das wenige Licht, das durch das Fenster fiel, beleuchtete einen Raum, der aussah als wäre er mit Watte gefüllt.
„Du, Blue…“
„Hast du einen Ausgang gefunden?“, fragte er mit eindeutiger Hoffnung in der Stimme.
„Nein. Aber ich glaube wir haben gerade die Freundschafe gefunden.“
Das brachte ihn zum Schweigen. Mich auch, um ehrlich zu sein. Denn zwar hatten wir das Ziel unserer Mission erreicht, aber waren so weit entfernt davon das NaNo-Land zu retten wie man nur sein konnte. Denn statt die Freundschafe zu retten, saßen wir anscheinend im gleichen Gefängnis fest.
Na super.

1 Kommentar:

  1. Kleiner Fehler im vorletzten Satz... Denn statt die Freundschafe zu retten, saßen wir anscheinend im gleicgen Gefängnis fest.

    Freude küssen Freunde... da würde ich wohl auch ziemlich amüsiert grinsen. Hach... ich mag das Zusammenspiel zwischen Mia und Blue. Und oha... krasser Einschnitt, bin ich froh das es so einen Ort nicht wirklich gibt. Man bin ich heute fertig... ich hab erst registriert wo sie jetzt sind als ich das erste Mäh gelesen habe, Schande über meine Kuh.

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