Vor uns war eine kleine Hütte aufgetaucht.
Sie sah so aus wie ich mir immer das Hexenhäuschen in Hänsel und Gretel
vorgestellt hatte, nur ohne die Süßigkeiten. Das machte das Haus nicht gerade
vertrauenswürdig, doch Roberot ging mitten durch den Holzbogen, in den die Tür eingefasst
war – er hatte Recht, der sah wirklich wie eine kleinere Version des
Eingangsbogens von vorhin aus – und Freundschaf folgte ihm ohne zu zögern. Dann
vertraute ich mal seinem Urteil. Blue hatte immer noch die Hand am
Schwertknauf, doch auch er kam mit in die Hütte.
Das Innere war eine Überraschung. Das
Häuschen sah von außen so aus als würde es höchstens einen Raum beinhalten.
Sobald man die Türschwelle überquerte, schien es jedoch zehnmal so groß zu sein. Wir
standen in einerm kleinen Flur mit Kleiderhaken an der Wand und Holzdielen als
Fußboden. Rechts ging es in eine Küche, geradeaus schien ein Badezimmer zu sein
und links gab es ein Wohnzimmer. An der einen Seite des Ganges führte eine
Treppen nach oben, vermutlich zu Roberots Schlafzimmer, da ich das durch keine
der offenen Türen hier unten erspähen konnte. Da fragte man sich doch, ob das
Haus auch einen Keller und einen Dachboden hatte. Zutrauen würde ich es ihm
jedenfalls.
„Eure Robben und Schuhe könnt ihr hier
lassen. Die Waffen könnt ihr gerne mitnehmen, wenn ihr euch dadurch sicherer
fühlt.“
Wir kamen der Aufforderung nach, obwohl es
mich wie immer schmerzte meine Robbe einfach an einem Kleiderhaken
zurückzulassen. Ich fragte mich jedes Mal, ob das nicht total unbequem und
einsam für das arme Ding sein musste. Wobei einsam im Auge des Betrachters lag,
da sie die Robben der anderen als Gesellschaft hatte.
„Hier entlang“, rief Roberot und stieß die
Tür zu dem Raum auf, den ich korrekterweise als Wohnzimmer identifiziert hatte.
„Sucht euch einfach einen Platz auf den Sofas und Sesseln. Die Papierstapel
könnt ihr einfach irgendwo hinlegen, wo Platz ist.“
Was er damit meinte, stellte sich heraus
sobald wir das Zimmer betraten. Es gab eine große Anzahl von Polstermöbeln in verschiedensten Farben, alle verblasst und alle voller Zettel.
Es war schweres Papier, wie die Seiten eines alten Manuskripts,
handbeschrieben. Sorgfältig sammelte ich alle Stapel von dem Sessel, den ich
mir asuerkoren hatte und legte sie fein säuberlich auf ein freies Fleckchen
Boden. Blue nahm einfach die beiden Stapel Papier auf seinem Sofa, legte sie
übereinander und stopfte sie auf die Fensterbank zwischen zwei Orchideen.
„Blue! So geht man nicht mit den Sachen
andere Leute um!“, zischte ich.
„Was hast du?“, beschwerte er sich. „Er hat
doch gesagt wir sollen Platz machen!“
Das war vergebliche Liebesmüh.
„So. Hier kommt der Tee.“
Roberot kam rückwärts durch die Tür, ein
Tablett in den Armen balancierend. Darauf standen zwei Kannen mit heißen
Getränken, mehrere Tassen und Untertassen, sowie ein Teller mit Sandwitches, die
Blue bereits gierig beäugte.
„Hier hätten wir einmal Kaffe und dann eine
Kanne heißes Wasser. Dazu kann ich Antwortee und Zeigtee anbieten. Die Beutel
könnt ihr selbst in eure Tassen tun und ziehen lassen. Das auf dem Teller sind
Sand Witches. Vorsicht, die Dinger sind unberechenbar.“
Blue, der sich bereits eine der Sand Witches
geschnappt hatte, tat das Essen wieder zurück auf den Teller. „Warum?“
„Wenn sie jemanden nicht mögen, versuchen
Sand Witches die Person zu ärgern, die sie essen möchte. Entweder verwandeln
sie sich einfach in Sand – daher kommt der Name – oder sie sie fliegen auf
ihren Besen davon.“
Jetzt konnte ich auch sehen, dass die Sand
Witches wie echte Hexen geformt waren. Ob Blue bei seiner nicht gerade
einnehmenden Persönlichkeit einen Nachteil bei den Sand Witches haben würde,
würde sich zeigen. Die erste Sand Witch war ihm jedenfalls bereits aus den
Fingern geflogen und war direkt in Freundschafs Maul gelandet.
„Jetzt essen wir erst mal in Ruhe – sofern
die Sand Witches sich essen lassen“, fügte er nach Blues beleidigtem Blick
hinzu. „Und danach besprechen wir auf was ihr im Legendenwald achten müsst.“
Die Sand Witches erwiesen sich als weniger
hartnäckig als gedacht. Jedem von uns flog höchstens eine weg (außer Blue, dem
gleich drei Hexen auf diese Art und Weise entkamen und eine sich in seinem Mund
in Sand verwandelte) und den Rest konnte man prima mit Tee oder Kaffee
runterspühlen. Ich hätte gerne probiert, ob der Antwortee wirklich antwortete,
wenn man eine Frage stellte, aber wollte mich nicht vor der versammelten
Mannschaft zum Deppen machen.
„Es ist schön mal wieder Besuch zu haben“,
meinte Roberot.
Was das anging hörte er sich ein wenig wie
Himmelrich und Mathilda an. Auch wenn er in den letzen paar Jahrhunderten
definitiv mehr Besuch gehabt hatte als die beiden. Von dem, was er erzählt,
waren Märchen gerade wieder im Kommen. Die Besucher seines Legendenwaldes
wurden von Jahr zu Jahr mehr.
„Dann wollen wir mal zum ernsten Teil es
Gesprächs kommen. Zuerst muss ich euch warnen. Hier gibt es all die
Märchenfiguren, von denen ihr immer geträumt habt. Dornröschen, Schneewittchen,
Aschenputtel, den kleinen Muck, die kleine Meerjungfrau… aber auch jeden
Bösewicht, gegen den all eure Lieblingshelden je kämpfen mussten. Die bösen
Stiefmütter, die Drachen, die Flaschengeister… Und die verzerrten Varianten
gibt es auch.“
„Verzerrt? Wie das?“ Ich schob mir ein
letztes Stück Sand Witch in den Mund und wartete auf eine Antwort.
„Nicht alle Legenden überleben die
Jahrhunderte ohne sich zu verändern. Teilweise bilden sich Abspaltungen der
Originale, manchmal verändern sich die Originale, manchmal bilden sich Sachen
komplett neu… Zum Beispiel gibt es die Zyklopfen.“
„Wasch isch dasch?“ Auch Blue hatte den Mund
voller Sand Witch, allerdings zierte er sich im Gegensatz zu mir nicht auch in
diesem Zustand zu sprechen.
„Eine andere Variante von Zyklopen,
natürlich! Das Klopfen kann ziemlich nervig werden. Allerdings sind die nicht
so schlimm wie Rotkläppchen
Das klatscht den ganzen Tag."
Ich versuchte mir die Zyklopfen und Rotkläppchen vorzustellen, aber das einzige, was mein Gehirn auf die Reihe bekam, war ein seltsames Klatschkonzert.
"Dann gibt es die Waffee, eine bewaffnete
Fee… ein fieses Ding ist das. Und haltet euch von den Wölfen fern! Die sind keine
Nuscheltiere, bestimmt nicht. Die können sprechen und sich anhören wie ihr,
aber wenn ihr einmal in die Nähe ihrer Zähne kommt, dann Gnade euch Gott.“
Er führte noch weitere Eigenheiten und
Kreaturen des Waldes auf. Zum Beispiel meinte Roberot, dass draußen lauter
winzige Elfen in den Bäumen hockten und Rotkäppchen spielten – allerdings mit
uns, indem sie versuchten uns vom Weg abzubringen. Eher der guten Seite zugetan
war wohl die Sorte Elfen mit weißen Rädern an ihren Flügeln, die allerdings von
Ammeisten bewacht wurden, einer großen Anzahl riesiger Ameisen, die ätzende
Säure versprühten, um Feinde fernzuhalten und die alles tun würden, um ihren
Erlenklönig zu beschützen, der angeblich ein Bruder des Erlkönigs war.
Diese beiden Elfenvölker waren generell mit
Vorsicht zu genießen, denn seit Jahren lieferten sie sich eine Schreiholzschlacht,
bei der sie sich mit Streichhölzern bekämpften und dabei laut schrien. Irgendwo
liefen wohl auch ein paar Thorfolger herum, die sich an den nordischen Legenden
orientierten.
Nun ja, niemand hatte behauptet der
Legenden-Wald wäre nicht weniger verrückt als die ganzen anderen Ecken des
NaNo-Landes.
Gerade weil es so viel gab, was man sich
merken musste, bot Roberot an, uns in die Ecke zu begleiten, in der wir am
ehsten Material zu den Freundschafen finden würden. Ziemlich bald nachdem wir
den Rest Zeigtee und Antwortee ausgetrunken hatten, brachen wir auf. Auch auf
dem Weg waren so einige Eigenheiten zu entdecken.
Ein Baum am Wegesrand war mit Mops und Pilzen
überwuchert. Die Möpse fingen tatsächlich an zu bellen, als wir vorbeikamen,
waren aber nicht im Stande uns zu folgen, da sie mit dem Baumstamm verwachsen
waren. Wir liefen auf einer relativ unbelebten Straße – andere Straßen wiederum
lebten sehr wohl und uns wurde geraten sich von ihnen fernzuhalten.
Was Hannes am meisten begeisterte war das
Kronfeld, an dem wir vorbeikamen. Laut Roberot hatten daher die Märchenkönige
ihre opulenten Kopfbedeckungen.
„Das hier ist ein Kronfeld“, erklärte er uns.
„Da wachsen die besten Kronen!“
„Mein Vater hat seine auch hierher, glaube
ich“, sagte Hannes. „Naja, er hat sie vererbt bekommen, aber das läuft aufs
Selbe raus. Den Legendenwald gibt es schon ewig und irgendeiner meiner
Ur-ur-ur-wasweißichwievieleurs-Großväter hat sich hier seine Krone geholt.“
An wieder einer anderen Stelle nahm langsam
ein Pan in meinem Kopf Gestalt an. Eine Weile lang dudelte er mich mit einer
Panflöte voll, bis ich Roberot davon erzählte und er dem Pan höflich aber
bestimmt sagte er solle doch bitte aus meinem Kopf verschwinden. Es tummelten
sich unheimlich viele Wesen aus unheimlich vielen verschiedenen Welten hier. Altenglische
und nordische Legenden, Mythen aus Griechenland, Märchen von Grimm… ich war
froh, dass Roberot uns seine Hilfe angeboten hatte, denn ohne ihn hätte ich in
diesem Wald weder ein noch aus gewusst.
Nachdem er uns die Ecke gezeigt hatte, in der
wir suchen sollten, bat er uns nicht zu sehr vom Weg abzuweichen und
uns vor Anbruch der Dunkelheit wieder auf den Rückweg zu machen. Er hatte
anscheinend etwas zu erledigen, denn die Elfen hatten die nächste Schlacht in
ihrem langen Krieg der Schreiholzschachtel begonnen und Roberot versuchte zu
vermitteln.
Die Bäume zu durchsuchen stellte sich als
schwieriger heraus als gedacht. Nicht nur, dass jeder Baum mehrere Geschichten
beinhaltete, die man dadurch freisetzte, dass man die Rinde an verschiedenen
Stellen zurückzog und dann in den Seiten darunter herumblätterte, es fiel mir
auch noch sehr schwer mich nicht in all den verschiedenen Mythen festzulesen.
Immer wieder stieß ich beim Überfliegen auf Passagen, die mich einfach zu sehr
interessierten.
Unsere Rettung war ausgerechnet Freundschaf.
Immer wenn jemand aus unserer Gruppe sich in einem Buch festlas, stellte es
sich neben die betroffene Person und machte so laut „Mäh!“ wie es konnte. Dieser Vorgang
musste bei jedem Gruppenmitglied mehrmals wiederholt werden.
Das war das große Problem von
Bücherliebhabern, die von Büchern umgeben waren, ob das nun in einer Bibliothek
war, oder einem Wald, der aus Büchern bestand. Wie konnten es einfach nicht
lassen zu lesen.
Dadurch bemerkten wir nicht wie die Sonne
langsam begann zu sinken und die Dämmerung begann. Ich bemerkte nur, dass es dunkler
wurde, als ich Schwierigkeiten bekam die Buchstaben auf den Seiten zu
entziffern.
„Leute, ich glaube wir sollten uns langsam
auf den Rückweg machen“, sagte ich.
Auch den Weg hatten wir weit hinter uns
gelassen, so vertieft waren wir in die Bücher gewesen. Ich konnte ihn gerade
noch weit hinten ausmachen, da die Vegetation sich ein wenig von der
unterschied, die an allen anderen Stellen des Waldes zu finden war.
Blue hatte sich in einem Teil von Beowulf
festgelesen, das anscheinend mehrfach im Legendenwald vertreten war und es
stellte sich als besonders schwierig heraus ihn zum Gehen zu bewegen. Als wir
uns endlich in Bewegung setzten, konnten wir gerade noch genug sehen, um zum
Weg zurückzufinden. Das mulmige Gefühl, das ich bereits beim Betreten des
Waldes gespürt hatte, meldete sich wieder.
Blue stolperte
neben mir durch das Gebüsch, dicht gefolgt von Oma, doch deren Robbe verfing
sich an einem Werg. Zuerst dachte ich es wäre nur ein Ast, doch das
vermeintliche Stück Holz entpuppte sich sehr schnell als stark fluchender Werg,
der mit der Faust fuchtelte und sich über meine Oma beschwerte.
„Das tut mir wirklich unendlich leid…“,
begann sie, kam jedoch nicht weit, da sie von einer ganzen Horde Werge
überrannt wurde, sie sich im Gebüsch versteckt gehalten hatten.
Die Horde Werge erreichte Blue, Freundschaf
und mich und schon bald waren wir umzingelt.
„Blue, wir brauchen deine Schwertkraft!“,
rief Oma.
Er machte sich sofort auf den Werg, um seine
Aufgabe zu erfüllen – nämlich die Werge zu besiegen. Aber Blues
Schwertkampfkünste waren wohl etwas eingerostet, denn bevor er tun konnte was
meine Oma vorgeschlagen hatte, wurde er von der Horde niedergerissen und das
Schwert aus seiner Hand geschlagen. Vielleicht hatte er während des NaNo doch
zu viel getippt und seine Finger waren noch verkrampft. In einem Nahkampf half
mein Bogen auch nicht viel. Allerdings hatte die Feder um meinen Hals wieder
begonnen Wärme zu verströmen.
"Mach doch einer was!" brüllte Hannes.
Ich richtete mich auf, so gut ich das in meiner
Lage konnte, da auch an meinen Beinen jede Menge Werge hingen, sprach einen
Zauber und warf dem Feind verzweifelt eine Käsereibe entgegen.
„Shit!“ So war das nicht geplant gewesen.
Warum gingen diese Zauber immer schief, wenn ich sie am meisten brauchte?
Auch ich ging zu Boden und so wurden wir von
einer Welle von Wergen immer tiefer in den Wald getragen, während der rettende
Weg aus unserem Sichtfeld verschwand.
Eine wunderschöne Vorstellung dieser Märchenwald... und cooler Cliffhanger.
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