„Auaaaaa, mein Kopf…“ Blue lag wieder mit dem
Kopf auf dem Teppich, die Augen geschlossen, die Haut käseweis. Hoffentlich
würde ihm das helfen zumindest weise genug zu werden, um nie wieder so viel zu
trinken.
„Das hast du davon! Ich hatte dir gesagt du
sollst nicht so viel trinken. Den Kater hast du selbst zu verschulden!“, rügte
ich ihn.
Blue war zwar nicht der einzige aus der
Drachenschenke, dem es so dermaßen dreckig ging, aber er war der einzige aus
unserer Gruppe, der einen Kater hatte. Oma und ich hatten zwar auch unseren
Spaß gehabt, aber nicht allzu viel getrunken und der Fakir war zumindest
flugtauglich geblieben. Nur Blue hatte es mal wieder übertreiben müssen.
Manchmal hatte ich das Gefühl, dass er alles
nach dem Prinzip „ganz oder gar nicht“ anging. Das war so, wenn er im November
schrieb, so dermaßen viel, dass mir nur die Augen aus dem Kopf fallen konnten,
er dabei allerdings den Rest seines Lebens vernachlässigte. Da konnte man
schlussfolgern, dass es in den anderen Bereichen seines Lebens ähnlich lief.
Blue stöhnte wieder und es regte sich ein
wenig Mitleid in mir. Er war zwar selber schuld, aber das konnte man ja nicht
mit ansehen.
Von wegen geteiltes Leid ist halbes Leid.
Heute morgen waren in der Drachenschenke nur verkaterte Autoren und Charaktere
unterwegs gewesen. Der Wirt hatte eine ganze Armee von Kaffemaschinen
aufgestellt, um alle versorgen zu können. Ein paar von ihnen hatten einige
Defekte gehabt, aber die meisten der Gäste hatten sowieso zu große
Kopfschmerzen, um irgendetwas davon mitzubekommen. So waren die Kaffemaschine, Kaffeemschne,
Laffeemschiene, Kaffeemaschiene, Kaffemachine und eine normale Kaffeemaschine
in Betrieb gewesen. Als wir abgeflogen waren, waren immer noch Leute mit
blutunterlaufenen Augen von oben in die Schenke getorkelt und hatten um Koffein
gebeten.
Seufzend befreite ich die Kette mit der Phoenixfeder
von diversen Schichten Kleidung, die ich übergezogen hatte und hielt sie hoch.
„Das mache ich wirklich nur, weil wir dich
voll funktionstüchtig brauchen“, seufzte ich.
„Mia“, warnte meine Oma. „Erinnere dich an
das, was Phoenix gesagt hat. Die Feder entzieht dir jedes Mal Lebenskraft, wenn
du sie benutzt. Ist es ein Kater wirklich wert?“
„Vielleicht. Immerhin geht es hier nicht nur
um Blues Kater, sondern darum, dass wir versuchen die Geschichten des
NaNo-Landes zu retten. Wenn wir heute Blues Schwertkraft brauchen und er dabei
ist sich an einem Baum zu übergeben…“
Blue stöhnte erneut und meine Oma bekam einen
nachdenklichen Gesichtsausdruck. „Ich glaube ich sehe was du meinst.“
Ich stellte mir vor wie die Feder um meinen
Hals wärmer wurde und wieder anfing ihr goldenes Licht abzugeben. Eine ganze
Portion davon schickte ich in Blues Richtung, dessen Stöhnen sofort leiser
wurde, bis er mit einem erleichterten Lächeln in der Mitte des Teppichs lag.
„Momentan ist es mir sogar egal, dass ich auf
einem fliegenden Teppich liege. Danke, Mia.“
Ich spürte wie ein Teil meiner Lebenskraft
sich verflüchtigte, nicht so viel wie ich befürchtet hatte, aber trotzdem
genug, um Blue Vorwürfe dafür machen zu können, dass ich meine Kraft für etwas
aus dem Fenster schleudern musste, was er eigentlich hätte vermeiden können.
„Du schuldest mir was. Denk dran“, grummelte
ich und steckte die Feder wieder weg.
Der Fakir hatte alldem mit großen Augen
zugesehen. „Du kannst zaubern?“
„Naja, ein bisschen.“ Ich zuckte mit den
Schultern. „Eine Freundin hat mir die Feder geschenkt.“
„Was genau habt ihr eigentlich im
Legendenwald zu suchen?“, wollte er wissen.
„Freundschafe. Oder Informationen über
Freundschafe. Es kann nicht schafen, informiert zu sein“, erklärte ich ihm.
„Mäh“, machte Freundschaf zustimmend.
Heute benahm es sich und kaute nicht auf
Teppichfransen herum, vielleicht, um Blue einen Gefallen zu tun. Ich hatte das
Gefühl, dass er uns allen etwas leidgetan hatte. Heute hatte es sich dazu
herabgelassen ihm während des Fluges als Kopfkissen zu dienen, sodass er mit
dem Kopf in Freundschafs weicher Wolle lag und in die Wolken hinaufschauen
konnte.
Wir flogen gerade über den Wald, in dem wir
damals den Schwertreitern und den Gegenwichten über den Weg gelaufen waren.
Irgendwo dort unten waren auch der Mund der Dares und das Arschiv versteckt.
Bei Letzterem hoffte ich, dass das niemals wieder jemand fand.
Ende Oktober hatte der Wald viel schöner
ausgesehen. Alle Blätter hatten angefangen bunt zu werden, es war ein einziges
Farbenmeer gewesen. Dagegen war selbst die Halle der Farbbeutelwürde in der
Gallerie nichts. Jetzt waren die meisten Bäume kahl und nur die dunklen
Nadelbäume ragten zwischen den kahlen Zweigen der Laubbäume empor.
„Im Legendenwald sind die Bäume immer grün“,
meinte Hannes plötzlich.
Er hatte sich auch über den Teppichrand
gebeugt und schien ähnlichen Gedanken zu folgen wie ich.
„Warum das denn?“ Von sowas hatte ich ja noch
nie gehört.
„Na das ist eine Märchengegend! Wenn die
richtig gepflegt wird, bleiben die schrecklichen Teile eines Märchens im Hintergrund
und es gibt ein ewiges Happy End.“
„Und wenn der Legendenwald nicht richtig
gepflegt wird?“
„Dann triumphieren die Monster. Stell dir
Hänsel und Gretel vor, aber mit dem Ende, dass die Kinder gefressen werden.
Stell dir Dornröschen vor, das niemals wachgeküsst wird. Oder Aschenputtel, die
bis in alle Ewigkeit ihrer Stiefmutter und den Stiefschwestern dienen muss.
Oder den Froschprinzen, der niemals zurückgeküsst wird…“
Oje, er hatte wieder einen seiner
Mitleidstage. Vielleicht war daran Blues bis eben noch schlechte Laune schuld.
„Warum bist du eigentlich nicht in der
Märchengegend? Du bist doch der Froschprinz?“, fragte der vom Kater, aber
leider nicht von seiner Insensibilität befreite Blue.
„Die Gegenden sind so nah beieinander, dass
es eigentlich keine Rolle spielt. Den Drachen habt ihr ja auch schon gesehen.
In einigen Ecken verschwimmen die Genres eben. Das habt ihr doch auch in der
Schwingenden Stadt gesehen.“
Vielleicht doch nicht komplett unsensibel.
Immerhin schien ihn das Thema ein wenig davon abzulenken, dass er noch immer in
der Form eines Frosches festsaß.
„Wir sind gleich da. Alle festhalten für den
Landeanflug bitte.“ Der Fakir brachte den Teppich in den Sinkflug und sowohl
Hannes als auch Blue hörten auf zu reden. Vielleicht war es gut, dass wir bald
den Kopf voller Freundschafe haben würden. Dann hatten die beiden keine Zeit
mehr in Selbstmitleid zu schwelgen.
Der Fakir setzte den Teppich sanft auf einer
Wiese ab. Es sah so aus, als wären wir hier vollkommen allein. Bisher hatte es
in jeder Region irgendeine Form von Betrieb gegeben. In den Städten sowieso,
aber selbst in den Dörfern der Fantasy-Gegend, oder dem Könlingsschloss gab es
Menschen. Hier kam ich mir sofort allein vor, obwohl mich meine Freunde
begleiteten.
„Da wären wir. Ich warte hier“, meinte der
Fakir nur.
Für solche Fälle schien er ein Instant-Zelt
dabeizuhaben, denn das entfaltete sich gerade von selbst und innerhalb von
wenigen Minuten hatte der Fakir sich ein schützendes Zelt und ein warmes Feuer
aufgebaut. Wenn da nicht ein wenig Magie im Spiel gewesen war, dann wusste ich
auch nicht wie er das geschafft hatte. Und da tat er so als ließe er sich von
meiner Feder beeindrucken…
Der Rest der Truppe trat an den Rand der Lichtung,
wo ein hohes Tor zu sehen war. Der Torbogen war aus Holz, das mit diversen
Runen versehen war. All das sah unheimlich alt aus und war mit Ranken
überwachsen, sodass ich, selbst, wenn ich die Runen lesen könnte, sie nicht
hätte entziffern können.
Es dauerte ein paar Sekunden, bevor ich
realisierte, dass ich vor einem halb verbitterten Torbogen stand. Das wurde
erst deutlich als das Ding anfing zu sprechen.
„Hey ihr. Ja ihr. Kommt ihr jetzt rein, oder
bleibt ihr ewig ein paar Meter entfernt von mir stehen?“, fragte das Holz.
„Ähm… da ist ein sprechender Torbogen…“,
flüsterte Blue.
„Klar kann ich sprechen, du Holzkopf!“,
maulte der Torbogen. Hey, das Ding wurde mir langsam sympathisch!
„Kommen hier oft Leute durch?“, fragte ich.
„Nein, leider nicht. Früher kamen viele. Dann
wurden es weniger. Jetzt werden es wieder ein paar mehr…“ Der Bogen schien in
seinen Gedanken abzudriften, denn er sprach nicht weiter und machte keine
Anstalten das Gespräch weiterzuführen.
„Gehen wir einfach“, flüsterte Hannes, der
wieder auf meiner Schulter saß, in mein Ohr.
„Passt auf. Hier kann es gefährlich sein“,
warnte der Bogen. „Und schön. Gefährlich und schön…“
Na das hörte sich ja vielversprechend an.
Wir gingen tiefer in den Wald hinein und
folgten dem halb von Pflanzen überwucherten Pfad, der sich durch die Bäume
schlängelte.
„Lasst uns einfach so in den Wald gehen.
Vielleicht ist der Weg schneller“, meinte Blue.
Seine Hand hatte er an seinem Schwert und
auch ich war froh, dass ich meinen Bogen über die Schulter geschlungen hatte. Vor
allem nach der Ansage des Torbogens war mit ein wenig mulmig zu Mute.
„Bloß nicht“, widersprach Hannes. „Erinnerst
du dich nicht an Rotkäppchen? Du weißt, dass sie vom Wolf gefressen wurde, weil
sie den Weg verlassen hat, um Blumen zu pflücken, oder? Wir sind hier im
Märchenland. Da wird sich an Märchenregeln gehalten.“
Leider musste ich ihm Recht geben. Ich musste
immer daran denken, was Hannes während des Fluges gesagt hatte – dass das
Märchenland immergrün wäre. Nun ja, hier war offensichtlich gerade Herbst, denn
die Blätter begannen sich gelb zu färben. Die meisten waren immer noch grün,
aber man konnte sehen in welche Richtung das hier führte. Was sagte das über
die momentane Gefährlichkeit des Legenden-Waldes aus?
Zuerst bemerkte ich es nicht, als sich die
Bäume veränderten. Dann jedoch wurde es so deutlich, dass ich es nicht länger
ignorieren konnte und stehen blieb, um die Rinde eines Baumes zu betasten.
„Was machst du da, Mia?“, wollte meine Oma
wissen.
Siehst du nicht, dass sich die Bäume langsam
aber sicher in Bücher verwandeln? Dieser hier hat sogar Seiten…“
Tatsächlich konnte ich die Rinde aufblättern
und fand darunter beschrieben Blätter wieder. Die Geschichte, die ich aufgeschlagen
hatte, war Rotkäppchen. Entweder zeigten diese Bäume also das, woran man gerade
dachte, oder sie beeinflussten das, woran man dachte, sodass man dadurch die
Geschichten finden konnte. Oder es war einfach Zufall gewesen.
„Sie hat Recht!“ Blue war auf die andere
Seite des Weges gelaufen und blätterte in einer Linde. „Das hier ist Das Wirtshaus im Spessart“.
„Ich habe Beowulf“,
meinte meine Oma.
„Beowulf?“ Ich sah mir ihren Baum genauer an
und tatsächlich hatte sie die altenglische Heldensaga gefunden. „Ich hätte
nicht gedacht, dass das mit zu den Märchen zählt.“
„Legenden-Wald, Mia. Nicht Märchenwald“,
erinnerte Hannes mich.
Er hatte Recht. Legenden und Märchen waren
nicht zwingend dasselbe. Sie hatten dieselben Wurzeln, aber wenn man sie
miteinander verglich… man das passte einfach zu gut auf diesen Bücherwald. Das
hier mochte vielleicht sogar die erste Bibliothek sein. Vielleicht waren
Bibliotheken nach diesem Beispiel gebaut worden. Der Wald an sich schien mir
jedenfalls sehr alt zu sein.
"Ich traue mich kaum hier draußen irgendetwas
zu erzählen, wo doch hinter jedem Buch jemand stehen und mithören könnte",
meinte Hannes und schaute über meine Schulter mit in das Buch, das ich
aufgeschlagen hatte. Ich hatte die Nibelungensaga erwischt.
„Vorsicht mit den Bäumen. Die Seiten sind
sehr alt und ich würde sie gerne für die Nachwelt bewahren“, ertönte plötzlich
eine Stimme aus der Richtung, in die wir gegangen waren, bevor wir von den
lebenden Büchern abgelenkt worden waren.
Blue hatte sofort sein Schwert gezogen und
ich hatte meinen Bogen gespannt. Nicht, dass es nötig war, denn meine Oma hatte
ihren Regenschirm fester gepackt. Nichts hatte eine Chance gegen sie und den
Starb.
„Keine Sorge. Ich will euch nichts Böses“,
beteuerte der Mann, der nun aus den Schatten getreten war.
Er hatte schlohweißes Haar und einen kurz
getrimmten Bart derselben Farbe. Außerdem trug er eine rote Robe – nein, Robbe.
Ich konnte sehen wie sie atmete.
„Mein Name ist Roberot und ich bin der Hüter
des Legendenwalds. Der Torbogen hat mich vorgewarnt, dass wir heute Besucher
bekommen.“
„Aber wie geht das? Der Torbogen ist dort
hinten und Sie kommen von da vorne!“, sagte Blue, sein Schwert immer noch
bereit.
„Der Torbogen ist ein Duplikat. Ein Teil
steht am Eingang des Legendenwaldes, der andere Teil steht dort, wo einmal der
Ausgang war, bevor der Wald gewachsen ist. Die beiden sind direkt miteinander
verbunden. Deshalb habe ich den Torbogen in mein Haus integriert; so weiß ich
immer wer mein Gebiet betritt.“
So seltsam es sich auch anhörte, mir erschien
das plausibel. Also packte ich meinen Bogen wieder weg. Freundschaf schien
ähnlich zu denken, denn mit einem „Mäh“ ging es auf Roberot zu und ließ sich
von ihm streicheln. Das schien letztendlich auch Blue davon zu überzeugen, dass
der seltsame Mann es nicht übel mit uns meinen konnte.
Wenn ihr wollt, helfe ich euch zu finden was
auch immer ihr sucht – und rate euch von welchen Ecken des Waldes ihr euch
besser fernhalten solltet.“
„Das hört sich nach einem guten Vorschlag
an“, meinte meine Oma. Ihren Schirm benutzte sie nun wieder als Gehhilfe.
„Dann folgt mir bitte.“
Roberot schien Hannes‘ Meinung zu teilen,
denn er blieb immer auf dem Weg, selbst wenn dieser einen Schlenker machte und
man dachte, einfach querbeet zu laufen könnte eine Abkürzung sein.
„Also, was führt euch hierher?“, wollte er
wissen.
„Wir suchen die Verwandtschaf von Freundschaf
und haben uns gefragt, ob es nicht ein paar Legenden über die Freundschafe
gibt. Das könnte uns Anhaltspunkte geben wo wir als nächstes suchen könnten.“
„Das war ein sehr guter Gedanke. Wenn man
eine Legende sucht, ist der beste Platz zum Suchen entweder hier, oder in der
Wandernden Bibliothek, aber da die nicht immer auffindbar ist…“ Er zuckte mit
den Schultern.
„Vor etwa einem Monat haben wir sie
gefunden“, sagte ich.
Roberot hob sofort interessiert den Kopf, um
mich anzusehen. „Wirklich? Wie geht es Himmelrich und Mathilda?“
„Sie kennen die zwei? Ich dachte alle Leute,
die sie je gekannt haben, wären schon längst tot!“
„Sein ganzen Leben einer Bibliothek zu
widmen, scheint einen selbst zu einer Art Geschichte zu machen. Anders kann ich
mir jedenfalls nicht erklären, dass auch ich ein unheimlich hohes Alter
erreicht habe. Vielleicht haben Bücher einfach ihre eigene Magie…“
Das glaubte ich ihm sofort. Dass Büchern eine
Magie innewohnte, konnte ich mir nur zu gut vorstellen.
„Wie wäre es, wenn ihr mit mir Kaffee trinkt
und ich euch erkläre wie ihr eure Schafslegenden finden könnt?“
Kaffee hörte sich nett an. Vielleicht würde der
das letzte bisschen von Blues Hangover vertreiben.
Ach du heilige... das war die Stelle wo Mia ungeplanterweiße Lebenskraft eingebüßt hat oder. Ganz schön krass... hoffentlich weiß Blue das zu würdigen. Und Mia packte ihren Bogen ein... da bist du kurz ins Präsenz gerutscht.
AntwortenLöschenNein, Blues Hangover ist nicht genug, um sie die Hälfte ihrer Lebenskraft zu kosten. Die Stelle kommt noch, so um Kapitel 20 rum, glaube ich.
LöschenOkay... dann heißt es wohl abwarten und Tee trinken.
Löschen